„Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.“ Das Gedicht am Geogebäude

„Wo ich bin, will ich nicht bleiben.“ Montagmorgens auf dem Weg in den Hörsaal sprechen mir diese Worte aus der Seele.
Wer sich des Öfteren im Glashaus oder im GEO-Gebäude aufhält (die Schnittfläche ist da doch erstaunlich groß), wird sicher schon einmal auf den Lüftungszylinder aufmerksam geworden sein, den diese Zeile ziert. Vielleicht wird der eine oder die andere davor stehen geblieben sein, zwischen Vorlesung und einer Kaffeepause im Glashaus, oder in den frühen Morgenstunden, nach einer wilden Party im beliebtesten Cafe-Wohnzimmer-Club auf dem Bayreuther Campus.
Die genauen Entstehungsumstände des lyrischen Grafitto sind trotz intensiver Recherche nicht klar; dank aufmerksamer Zeugen kann die Tatzeit jedoch auf das Jahr 2014 eingegrenzt werden.
Während der Sprayer nicht aufzuspüren ist (ein Professor in der midlife-crisis? Ein Ku-Wi? Oder doch ein Gecko?), ist der Verfasser des Gedichtes sehr wohl bekannt.
Für ihn waren es nicht etwa unliebsame Vorlesungen, die ihn zum Schreiben der Verse inspirierten.
Thomas Brasch, 1945 in Großbritannien geboren und in der DDR aufgewachsen, schrieb diese Zeilen im Angesicht seiner Umsiedlung in die BRD 1976. Vor diesem Hintergrund liest sich das Gedicht plötzlich ganz anders: Hier die Heimat, dort die Fremde, hier der gewohnte Alltag, dort das Risiko, hier aber auch die Unterdrückung, dort die Freiheit. Unmöglich, das gegeneinander aufzuwiegen. Und obwohl Braschs Gedicht diese für uns kaum vorstellbare Zerrissenheit so wunderbar darzustellen vermag, ist es zugleich zeitlos.
„Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.“ Kaum jemand, der dieses vage Gefühl von Unruhe und Wegwollen nicht kennt.
Braschs Verse regen an zum Innehalten und Reflektieren, sie sind einer dieser kleinen Anstöße, über die man stolpern kann -gottseidank-, hat man sich wieder einmal im dichten Dschungel aus Prüfungen, Pflichten und Terminen verrannt. Und diese Stolpersteine sind notwendig – vielleicht mehr denn je in der Studienzeit, in der so vieles möglich ist und viele Weichen noch zu stellen sind.
Daran erinnert das Gedicht am GEO-Gebäude: wie wichtig es ist, die eigenen Umstände immer wieder kritisch zu betrachten und gelegentlich zu hinterfragen: „Will ich bleiben, wo ich bin?“
Vielleicht sogar am Montagmorgen, auf dem Weg zur Vorlesung.

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