Ernest Hemingway: Der alte Mann und das Meer

Im Jahr 1952 kündigte der US-amerikanische Verlag Charles Scribner’s Sons das Erscheinen eines „neuen Klassikers“ an, eine Novelle, die als „einfach, bezwingend und großartig“ beschrieben wurde und für deren Erzeugnis sich kein Geringerer als der Schriftsteller Ernest Hemingway verantwortlich zeichnete. Die genannte Novelle trägt den Titel „Der alte Mann und das Meer“ und gilt als eines der wichtigsten Werke des 20. Jahrhunderts, ihr Autor als Meister seines Fachs. Es sind ein paar wenige Tage im Leben des alten Fischers Santiago, an denen Hemingway den Leser auf berührende Art und Weise teilhaben lässt, ihn mit hinausnimmt in die Weiten der See. Bereits seit 84 Tagen ist dem alten Santiago kein Fisch mehr an den Haken gegangen. Salao, sagen die anderen Fischer, sei er: Vom Unglück verfolgt. Santiagos junger Freund Manolin soll ihn deshalb nicht länger beim Fischen begleiten. So kommt es, dass Santiago an diesem Morgen allein in die See sticht. Um ihn herum ist längst nur steingrauer Horizont, als ihm ein riesiger Fisch an den Haken geht – und das Boot mitsamt dem alten Mann unmittelbar auf das offene Meer hinauszieht.

„Er schaute aufs Meer hinaus und wusste, wie allein er jetzt war. Aber er sah die Prismen im tiefen dunklen Wasser und die gestraffte Leine und die seltsame Wellenbewegung der windstillen See. Die Wolken fanden sich für den Passat zusammen, und weit voraus sah er einen Schwarm Wildenten, die sich über dem Wasser scharf vom Himmel abhoben, dann verschwammen, dann wieder scharf wurden, und er wusste, dass ein Mann auf See niemals allein war.“

Das Ringen, Ausharren und der Kampf zwischen dem alten Mann und seinem Fisch, einem Marlin, sind die Themen, denen die Parabel gewidmet ist. Der Schmerz ist zwingender Bestandteil der Geschichte, gleichermaßen erfasst er nicht nur den Fisch und den zähen alten Mann, sondern auch den teilhabenden Leser. Zwei unnachgiebige Tage hat Santiago bereits auf See verbracht, als sich der Fisch endlich ergibt, sodass der Alte ihn mit der Harpune erlegen und an der Längsseite seines Bootes festtäuen kann. Doch bevor er das Festland erreicht, wittern Haie die wehrlose Beute und zerteilen sie trotz Santiagos erbittertem Widerstand in ihre Bestandteile, bis sie nur noch aus einem vollends abgenagten Skelett besteht. Als Santiago an der Küste Kubas anlegt und den Golfstrom mit seinen Bewohnern hinter sich lässt, ist von seinem Fang nichts mehr übrig geblieben, wovon er sein täglich Brot hätte bestreiten können. Das, was das Meer ihm gab, hat es ihm im gleichen Atemzug wieder genommen. Nach über drei Tagen mit Santiago auf See bekommt der Leser ein Gespür für den alten Mann, dessen Leben dem Meer gewidmet war und dessen Kraft in den sehnigen Armen langsam nachlässt. Ein letztes Mal will er sich der See vollends ausliefern, sich auf ihr umtriebiges Wesen einlassen. Obwohl er den Marlin tötet, gewiss töten muss, um selbst zu überleben, begegnet er dem Tier, das gleichsam zu seinem Freund wird, mit tiefem Respekt. Am Ende sind es die großen Themen – das Leben und das Sterben – die sich in „Der alte Mann und das Meer“ schlicht und würdevoll unter Hemingways Feder entfalten und die noch lange nachklingen, wenn über dem Fischerdorf an der kubanischen Küste längst Ruhe eingekehrt ist.