Herr B.

Herr B. erwacht gut ausgeruht in seinem klimatisierten, schalldichten Schlafraum. Auf einem tragbaren Schaltpult drückt er einige Knöpfe und bringt damit Leben in seine von der Elektronik beherrschte Wohnung.

Herr B. ist 45 Jahre alt, parteilos und Junggeselle. Er hat seit fünf Jahren eine feste Freundin und seit zwei Jahren ein künstliches Herz, das ebenfalls absolut zufriedenstellend funktioniert. Herr B. ist im Großen und Ganzen mit seinem Leben zufrieden, besonders, da es seit etwa fünf Jahren Optimum 10, ein schnellwirkendes Medikament gegen Depressionen aller Art gibt.

Während er sich rasiert, wird in der vollautomatischen Küche das vorgefertigt angelieferte Normfrühstück FS10-22 im Hochfrequenzofen zusammen mit dem Kaffee zubereitet. Inzwischen ist auch die Morgenzeitung fertig. Die großen Zeitungen erscheinen genau wie vor dreißig Jahren, aber nur ein kleiner Teil der Auflage wird noch gedruckt. Die Abonnenten beziehen ihre Zeitung zweimal täglich über einen Spezialdrucker. Nur einige große Zeitungskonzerne können sich diese aufwendige Technik leisten, kleinere Zeitungen gibt es kaum noch.

Herrn B.s Wohnung liegt in einem riesigen Wohnturm mit 2.000 Appartements. Sie ist nicht nur vollklimatisiert, sondern hat auch Anschluss an das internationale Fernsehsatellitennetz. Solange der Fernsehschirm unbenutzt ist, sieht er wie ein Bild aus, das an der Wand hängt. Etwa 15 ausländische Stationen sind zu empfangen. Man kann rund um die Uhr fernsehen. Als diese Einrichtung neu war, liefen Millionen von Menschen ständig unausgeschlafen herum. Inzwischen hat die Sache den Reiz der Neuheit verloren.

Herr B. muss noch seine Arbeitsstelle anrufen, weil er heute etwas später kommt. Er benutzt dazu das Fernsehtelefon. Die Einrichtung hat zu einem erheblichen Abbau direkter menschlicher Kontakte geführt. Denn viele Leute besuchen ihre Freunde gar nicht mehr, sondern treffen sich nur noch per Bildschirm. Sozialforscher und Psychologen warnen deshalb schon seit langem – ohne Erfolg – vor der zunehmenden Isolation des Menschen durch die Technik.
Herr B. ist auf dem Wege zur Arbeit. Er wohnt nicht weit vom Bahnhof und benutzt keinen rollenden Bürgersteig, sondern läuft altmodischerweise zu Fuß. Er liebt diese paar Schritte in frischer Luft, denn seit Verschmutzung der Umwelt durch Gesetz verboten ist – 1990 plädierte man sogar für die Todesstrafe – kann man auch auf der Straße wieder ungefährdet Luft holen.

Herr B. arbeitet etwa 80 Kilometer entfernt in einer anderen Stadt. Das ist weder ungewöhnlich noch zeitraubend, denn natürlich fährt er nicht mit dem Auto. Ein schneller Zug bringt ihn in etwa 15 Minuten ans Ziel. Am Bahnhof mietet Herr B. durch Münzeinwurf ein elektrisches Stadtauto. Diese kleinen Stadtwagen stehen an allen wichtigen Knotenpunkten bereit.

Mitunter, während Herr B. in seiner Glaskabine dahinrollt, hat er ein bisschen Sehnsucht nach der alten Zeit. Da dauerte der Weg zwar länger, aber man ging durch dicht bevölkerte Straßen, sah andere Gesichter und hörte fremde Stimmen. Manchmal fühlt Herr B. sich also schrecklich einsam in der perfekten, elektronisch gesteuerten Welt, in der er lebt. In der Mikrofone für ihn hören und Kameras für ihn sehen. Aber dann nimmt er schnell eine Tablette Optimum 10 und fühlt sich gleich besser.

Gekürzte Transkription der ZDF-Dokumentation „Richtung 2000 – Vorschau auf die Welt von Morgen“ von Arno Schmuckler und Peter Kerstan. D ’72.