„Er hat ihr das Kleid vom Leib gerissen, er wirft es zu Boden, er reißt den kleinen weißen Baumwollslip weg und trägt sie nackt zum Bett. Und dann dreht er sich zur anderen Bettseite und weint.“
Von Hanno Rehlinger
Selten ist eine Liebe so zart und so gnadenlos erzählt worden, wie von Marguerite Duras in „der Liebhaber“. Der autobiografische Roman spielt in „der langen heißen Zone der Erde [ohne Jahreszeiten]“, an den Ufern des Mekong. Das feuchte Klima und die mürbe Hitze rahmen die Jugend der Autorin im französischen Indochina der späten zwanziger Jahre. Die Mutter ist eine verarmte Kolonialherrin, der Vater ist tot. Sie lebt mit ihren Brüdern und der Mutter auf dem Familienbesitz in der Nähe von Saigon. Ihre Mutter ist depressiv und trinkt, ihr großer Bruder gewalttätig und kriminell. Die Geschichte beginnt, als die 15 ½ jährige auf der Überfahrt zum Pensionat, einen 27 Jahre alten, reichen Chinesen sieht. Er zittert, als sie das erste Mal sprechen. Von da an, lässt sich das junge Mädchen jeden Tag von seiner schwarzen Limousine in die Schule fahren, später dann in das chinesische Viertel, wo er sie hinter zugezogenen Vorhängen auszieht und wäscht, bevor sie mit einander schlafen. Sie wird geächtet für ihr Verbindung mit dem älteren Mann aus Cohen. Ein weißes Kind und ihr chinesischer Liebhaber.
Marguerite Duras erzählt ohne Vorurteil von ihrer ersten Liebe. Eine merkwürdig verletzliche Stimmung scheint die Geschichte zu begleiten. Das mag an der entsetzlichen Intimität des Buches liegen. Natürlich benutzt die 15-jährige die Worte der, zur Zeit des Verfassens, schon fast 80-jährigen Duras, aber das Wissen, die Kränkung, die ihrer Sprache innewohnt, gehört dem Kind, und nicht der später aus ihr gewordenen Autorin. In der ersten Sex Scene spricht sie in der dritten Person, von ihr, dem Mädchen. Kurz danach heißt es wieder: „Ich wusste nicht, dass man dabei blutet.“
Duras schreibt, aus der Perspektive ihrer Kindheit, unerbittlich über das Leben. Der Hass gegenüber dem größeren Bruder und die Angst. Das Verlangen des Mädchens, das sich als verdorben betrachtet. Die Abgeklärtheit, mit der sich dieses Kind auf das „Experiment“ einlässt wirkt nicht verletzlich, aber genauso wenig kühl. Viel mehr scheint es vorherbestimmt, getrieben zu sein. Es fällt überhaupt auf, dass das Mädchen, obwohl in Gedanken schuldig, nie aktiv an der Liebe teilnimmt: „Ich würde es vorziehen, wenn Sie mich nicht liebten. Doch selbst wenn Sie mich lieben, möchte ich, dass Sie tun, was Sie üblicherweise mit Frauen tun.“
Es schwingt kein Vorwurf mit in der Erzählung, nicht gegenüber ihm jedenfalls. Duras erzählt von sich, was ihr geschah, ohne zu erklären oder einzuordnen. Wenn ich vorher von einer, dem Buch innewohnenden Verletzlichkeit gesprochen habe, so wird diese eigentlich nur durch ihn gewahr. Ihr chinesischer Liebhaber ist „ohne ein Zeichen von Männlichkeit, mit Ausnahme des Geschlechts“, „er scheint der Willkür von Kränkungen ausgeliefert zu sein, leidend“. Er liebt sie und sie ihn nicht, von Anfang an.
Die Spannung zwischen ihrer höheren gesellschaftlichen Stellung als Französin, ihrem zarten Alter und ihrer Abhängigkeit von seinem Geld rückt ihre Beziehung in ein kaltes Licht. Ihre Familie nimmt das Geld des Chinesen, aber weigert sich mit ihm zu sprechen, wenn er sie zum Essen einlädt. Ohne Worte wird das kleine Mädchen prostituiert.
Aber das ist zu einfach ausgedrückt. Es ist eine Geschichte der Gewalt, der dauernden Kränkung, des Verfalls, des sich Aufgebens. Es ist eben eine Liebesgeschichte.
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