Alle Kinder lernen lesen(?)

Lesen und Schreiben werden in Deutschland als Grundvoraussetzung für ein erfülltes Erwachsenenleben angesehen. Aber wie viele Kinder rutschen durch das Raster? und wie wird das Schreiben und Lesen in anderen Ländern gehandhabt?

von Antje Behm

„Aaaalle Kinder lernen leeeeesen“ schallt es inzwischen bei fast jedem Oktober- oder Frühlingsfest aus den Bierzelten. „Indiiiianer und Chineeeeesen“, geht es dann im feuchtfröhlichen Vergnügen weiter. Die volksfesttaugliche Version stammt aus dem Jahr 2010 von der Interpretin Ina Colada. Das Lied selbst war schon früher sehr bekannt, da es in vielen Grundschulen traditionell zur Einschulung gesungen wird. Es soll den Kindern Freude am Lesen vermitteln und dabei helfen, Laute mit Buchstaben zu verbinden. Abgesehen davon, dass der Liedtext starker Kritik ausgesetzt ist, weil er Stereotype befördert und so nebenbei ganze Bevölkerungsgruppen abwertet („Selbst am Nordpol lesen alle Eskimos“), ist der Inhalt nicht einmal ansatzweise korrekt. „Alle Kinder lernen lesen“ ist zwar ein erstrebenswertes Ziel und würde ganzen Generationen einen höheren Lebensstandard ermöglichen – realistisch betrachtet ist die Welt davon noch weit entfernt.

Laut dem Weltbildungsbericht der UNESCO waren im Jahr 2019 etwa 750 Millionen Menschen von Analphabetismus betroffen. Als totaler Analphabet wird eine Person bezeichnet, die nicht in der Lage ist, selbst einfache Sätze zu lesen und zu schreiben. Zwei Drittel dieser Menschen sind Frauen. In Familien, die sich den Schulbesuch nicht für alle Kinder leisten können, werden Jungen bevorzugt zur Schule geschickt, da diese später Familien ernähren müssen. Es liegen aber auch andere Gründe für die fehlende Bildung von Mädchen und Frauen vor. Traditionen wie Beschneidung, frühe Verheiratung und Schwangerschaften sind nur einige davon. Oft verpassen Mädchen, die zur Schule gehen, Unterricht auch deswegen, weil sie während ihrer Regelblutung keine Hygieneprodukte zur Verfügung haben. Diese Mädchen geraten in eine Abwärtsspirale, da fehlende Bildung sie noch verletzlicher macht und der herrschenden Gewalt ausliefert. In den letzten Jahren hat sich die Lage kaum verbessert, obwohl zahlreiche Organisationen weltweit Projekte auflegen, die eine flächendeckende Schulbildung ermöglichen sollen. Die meisten Menschen, die mit Analphabetismus zu kämpfen haben, konnten als Kinder nicht oder nur unregelmäßig eine Schule besuchen und kämpfen so später damit, dass sie keine Arbeit finden. Von den 750 Millionen Menschen sind etwa 102 Millionen zwischen 15 und 24 Jahre alt. Organisationen wie Terre des hommes oder Plan International versuchen den Teufelskreis zu durchbrechen und auch die UNESCO-Kommission hat im Jahr 2015 die „Agenda Bildung 2030“ beschlossen, die bis 2030 allen Menschen Lese- und Schreibkompetenzen ermöglichen soll.

Wenn man in Deutschland aufgewachsen ist, einen Abschluss einer weiterführenden Schule besitzt und die Universität besucht, dann tendiert man eher dazu, diese Zahlen als Problem von Entwicklungsländern zu betrachten. Doch auch das deutsche Bildungssystem hat mit Analphabetismus zu kämpfen, wenn auch sicher in viel kleineren Dimensionen als Entwicklungsländer mit geringen wirtschaftlichen Kapazitäten und maroden Bildungssystemen. Laut der UNESCO können etwa zwölf Prozent der Berufstätigen in Deutschland nicht richtig lesen und schreiben, was wiederum Aufstiegschancen schmälert oder ganz verbaut. Dabei ist es wichtig, zwischen funktionalem Analphabetismus und totalem Analphabetismus zu unterscheiden. Totaler Analphabetismus meint dabei die völlige Unkenntnis schriftlicher Systeme. Funktionaler Analphabetismus bedeutet dagegen, dass eine Person zwar einfache Sätze schreiben und lesen kann, ihre Kenntnisse aber nicht ausreichen, um am gesellschaftlichen und beruflichen Leben vollwertig teilzunehmen. Jährlich gehen etwa

80.000 Schüler von Schulen ab, ohne einen Abschluss erworben zu haben, oft mit fehlenden Kompetenzen in den Bereichen Lesen, Schreiben und Rechnen. Analphabetismus wird etwa seit den 1970er- und 80er-Jahren als gesellschaftliches Problem thematisiert. Im Jahr 2000 wurden dann durch die International Reading Association die „zehn Rechte des Kindes auf schriftsprachliche Bildung“ veröffentlicht. Hinter diesem etwas sperrigen Titel verbirgt sich eine Zusammenstellung der Kompetenzen und Bildungsmitteln, die zur wirksamen Alphabetisierung von Kindern beitragen sollen. Dazu gehört der Zugang zu Büchern und anderen Schriften, individuelle Förderung der eigenen Kenntnisse, zusätzliche Unterstützung beim Lernen, kindergerechte Lernorte und auch die Förderung durch die eigenen Eltern. Letzteres funktioniert natürlich nur, wenn die Eltern ebenfalls ausreichend alphabetisiert sind. Besonders seit der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 erfährt die individuelle Leseförderung an Grund- und weiterführenden Schulen mehr Zuwendung. Laut der deutschen UNESCO- Kommission sind über die Hälfte der weltweit Geflüchteten Menschen unter 18. Auf die Herausforderung, Kindern nicht nur Lesen und Schreiben beizubringen, sondern das ganze auch noch auf einer neuen, fremden Sprache zu vermitteln, waren weder Führungskräfte noch Lehrpersonal eingestellt. Deutschland hat für den Zeitraum von 2016 bis 2020 die Geldmittel aufgestockt und beispielsweise 800 Millionen Euro für sprachliche Bildung in Kindertagesstätten bereitgestellt. Diese Gelder wurden unter anderem verwendet, um neue Lesematerialien anzuschaffen und Lesekreise mit ausgebildeten Pädagogen einzuführen. Um den Herausforderungen entgegenzutreten, gründen sich zusätzlich zu den Kapazitäten, die Bund und Schulen stellen, auch noch weitere Initiativen, die das Ziel haben, Kindern Freude am Lesen zu vermitteln. Dazu gehört das Leseclub-Projekt der Stiftung Lesen, das einen Raum schafft, in dem Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren gemeinsam lesen und spielen können. Die Leseclubs werden als eine Art Arbeitsgemeinschaft zusätzlich zum normalen Unterricht in Schulen angeboten. Bis zum Jahr 2022 sollen in ganz Deutschland rund 450 Leseclubs eingerichtet sein. Diese Initiativen bauen oft auf die Mitarbeit von Ehrenamtlichen. Das ist sicher eine positive Entwicklung, da so die Akzeptanz und das Bewusstsein in der Gesellschaft unterstützt werden kann.

In den Jahren seit der Jahrtausendwende hat sich im Europäischen Raum viel getan, um Kindern und Jugendlichen eine gleichwertige Bildung zu ermöglichen. Mit den erworbenen Erkenntnissen können sich verschiedene Organisationen weltweit hoffentlich Raum sichern, in dem immer mehr Kinder alphabetisiert werden können. Aktuell sind Lesen und Schreiben aber noch ein Privileg, das nicht allen zugänglich ist. Der Satz „Alle Kinder lernen lesen“ ist daher einfach noch nicht realistisch. Optimistisch formuliert: „Alle Kinder werden lesen lernen.“

Antje Behm
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