Es ist eine lauwarme Sommernacht und ich kann nicht schlafen. Ich sitze auf einer Mamorstufe vor dem Eingang des Hostels und lese, als eine dumpfe Stimme hinter der schweren Eingangstür immer lauter zu werden scheint. Die Scharniere quietschen und eine große, hagere Gestalt stolpert heraus. Ein Mann mit schmalem Gesicht, in dem die Wangenknochen hervortreten und die Augen tief in den Höhlen unter den dünnen Augenbraun liegen, steht plötzlich vor mir. „Its fucking hot inside! Seems like you have the same problem!?”, sagt er während er mich mustert. Er wartet gar nicht auf eine Reaktion und fragt weiter „Are you Australian?“. „German“, antwortete ich knapp und schnell, bevor er die Chance hat weitere Nationen aufzuzählen. Mit einer schlaksigen Bewegung deutet er auf mein Buch und fragt: What a book are you reading?”. “Just one to get tired” antworte ich ausweichend. Ich hatte keine Lust ihm groß zu erklären, wovon es handelt oder wer der Autor ist. Er steht immer noch, etwas wackelig, aber aufrecht vor mir und lässt den Kopf in den Nacken fallen. Der Abendhimmel ist klar und trotz des Laternenlichts sind die Sterne zu sehen. Nachdem ich unentschlossen auf mein bereits zugeklapptes Buch geschaut habe, blicke ich erneut auf. Er trägt ein fleckiges weißes Unterhemd und zerschlissene Jeans. Beides hängt flatterig an seinen dünnen Gliedern herunter. Er merkt nicht, dass ich ihn ansehe und ich habe das Gefühl, als wäre er gar kein lebendiger Mensch, sondern eine aus Stein gemeißelte Figur. Als ich seine blassen Unterarme ansehe, die von mehreren kleinen Wunden überzogen sind, neigt er seinen Kopf wieder nach vorne und fragt mich, was ich hier in Granada mache. Ich sage ihm, dass ich auf einer Rundreise durch Spanien bin und später auch noch Freunde in einer kleinen Stadt in Andalusien besuchen werde. Er lächelt kurz und nickt nervös, wobei seine kurzen blonden Haare in der Abendbrise wehen und genauso zerbrechlich wirken wie seine Gestalt. Ich war seiner Gesellschaft nicht abgeneigt. Auch wenn ich zum gleichen Zeitpunkt wusste, dass ich nicht mehr dazu kommen würde das Buch weiterzulesen, wenn ich blieb. Ich wollte ihm nicht das Gefühl vermitteln, dass er mich störte. Für einen kurzen Moment setzte er sich neben mich. Ich bemerkte seine schwarzen Zähne und sein vernarbtes Gesicht und versuchte immer mehr den unangenehmen Gedanken zu verdrängen, dass er ein Junkie ist. Auf meine Frage, was er hier in Granada mache, holte er aus. Ich wusste, es würde ein Monolog ohne Punkt und Komma werden. Er redete unglaublich schnell und seine Unruhe, sowohl kognitiv als auch motorisch, machten mich verrückt. Er stand immer wieder auf, setze sich hin, stand auf, lief vorm Eingang des Hostels auf und ab. In der Zwischenzeit flanierten Paare die kleine Gasse entlang, schauten manchmal kurz zu uns herüber, um sich zu vergewissern wer so laut rede und bogen um die Ecke oder verloren sich im dunklen Flimmern der Sommerluft. Ich versuchte einfach zuzuhören. Mir selbst redete ich ein, dass er ruhiger werden würde, wenn ich bloß keine Ungeduld oder Desinteresse signalisiere. Er stellte sich mir vor als „Pusher“ und erzählte mir, dass er seit ein paar Monaten in Spanien sei. Er habe einen großen Auftrag bekommen, der ihm einiges an Geld einbringen würde. Die letzten Jahre habe er sich durchgeschlagen als Ticker und kämpfte dabei selbst immer gegen den Stoff und den eigenen Verfall. Ich fragte mich in dem Moment nur, wie er durch die Flughafenkontrolle gekommen war. Vieles von dem was er erzählte verstand ich nicht. Es war wirr und er redete so schnell, dass er oft halbe Wörter verschluckte. Er sei in Detroit aufgewachsen, habe seit Ewigkeiten keinen Kontakt mehr zu seiner Familie und reise seitdem dem Stoff, den Deals und dem nächsten Schuss hinterher. Ich machte mich innerlich bereit für abgründige Stories. Sie kamen und entwickelten sich zu einem dumpfen Hämmern in meinem Kopf. In all den Jahren seiner Abhängigkeit hat er viel Scheiße gebaut, sagt er. Als er mit anderen Obdachlosen und Abhängigen zusammen die Nacht verbrachte, musste er sich gegen einen Überfall wehren. Zwei Menschen hatte er dabei in Notwehr umgebracht. „Thats it“, sagt er trocken. In dem Moment realisiere ich, wie einfach Morde unter längst Totgeglaubten sind. Aus dem System gestrichen, tauchen tote Junkies auch nicht auf, selbst wenn sie umgebracht wurden. Der Pusher glaubt aber daran, dass er irgendwann seiner Familie wieder in die Augen blicken kann. Irgendwann wird man ihm vergeben. Im Moment macht er sich eher Sorgen wie er den Stoff rüber nach Malta schleusen soll.
Am nächsten Morgen checke ich aus. Auf meinem Weg zur Rezeption höre ich die Inhaberin des Hostels wie sie sich beschwert: „Oh Gott, der Kerl war so laut. Ich konnte seine Stimme kaum noch ertragen.“ Zwei Gäste lachen und stimmen ihr zu: „Er ist ja zum Glück weg.“
Ich denke kurz zurück – an unser Gespräch, seine hagere Gestalt und seine nervösen Manierismen. Ich hätte gerne noch einmal einen letzten Blick von ihm eingefangen. Aber vielleicht geht es ihm gut. Vielleicht ist er auf Malta und verkauft Drogen.
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