„Diese Revolution wird mit Fawaz’ Blut weitergeführt”

Nach einigen Wochen Corona-Ruhe im Libanon kam es Ende April im Rahmen neuer Proteste zur Tötung des 26-jährigen Fawaz Fouad al-Samman durch einen Soldaten. Nun wird Samman als Märtyrer gefeiert.

Gastbeitrag von Franziska Fluhr, veröffentlicht am 22. Mai 2020

Einige Wochen war es sehr ruhig im kleinen Mittelmeerstaat, wo es seit dem 17. Oktober zu Massenprotesten gegen das korrupte Regime und die Bankelite kommt. Die Angst vor einer Corona-Ansteckung in einem Land mit dem unter der Wirtschaftskrise leidenden Gesundheitswesen und kaum existenter sozialer Absicherung war zu groß. Beiruts Downtown, der Hauptherd der Proteste in der Hauptstadt, war gespenstisch leer. Seit Oktober haben sich die Forderungen der Demonstrierenden jedoch nicht erfüllt, im Gegenteil. Mit der Wiedereröffnungder Parlamentssitzungen im April kamen deshalb auch die Proteste zurück. Zur Wut über die korrupte Wirtschafts- und Politikelite kommt nun ein entscheidender neuer Faktor hinzu: Nach dem endgültigen Kollaps der libanesischen Wirtschaft werden die Ausschreitungen inzwischen auch als „Protests of Hunger“ bezeichnet. Während die Preise stetig ansteigen, verlieren immer mehr Menschen ihre Arbeit oder erhalten weniger Lohn. Schätzungen des libanesischen Think Tanks Triangle zufolge sind inzwischen um die 45 Prozent der libanesischen Bevölkerung unter die relative Armutsgrenze von 4 Dollar täglich gefallen. Der Staat hat versagt, für den schutzbedürftigsten Teil der Bevölkerung zu sorgen. „Es ist egal – entweder wir sterben an Hunger oder an Corona“, heißt es daher auf den Protesten. Zurückgekommen sind die Protestierenden nicht nur in verringerter Anzahl, sondern auch wesentlich gewaltbereiter. Waren die Demonstrierenden im Oktober bereits wütend, so hat die Entrüstung inzwischen ein komplett neues Level erreicht. Hage Ali, Fellow am Carnegie Middle East Center in Beirut, bezeichnet es als unrealistisch, von einer hungernden und verarmten Bevölkerung zu erwarten, friedlich zu demonstrieren. Fokus der neuen Proteste sind Schlüsselorganisation im Kampf gegen das Regime: Angegriffen werden kommerzielle Banken, die Zentralbank und der nationale Stromerzeuger. Seit Wochen verliert die libanesische Währung an Wert. Nach einem neuen Rekordabsturz am 27. April folgte in der kommenden Nacht die bis zu diesem Zeitpunkt höchste Eskalation der Proteste, insbesondere in Tripoli. Die mehrheitlich sunnitische Stadt im Norden des Landes ist die ärmste des Libanon. Seit Oktober ist sie Hauptschauplatz der Revolution, viele bezeichnen den Zusammenhalt der Tripolianerinnen als beispiellos. Es ist nicht verwunderlich, dass sich also genau dort Demonstrierende und das Militär gewalttätige Auseinandersetzungen lieferten. Dass die libanesischen Fernsehsender zum ersten Mal nicht über die Ausschreitungen und das hefige Eingreifen des Militärs berichteten, sorgte auf social media Plattformen für einen Aufschrei. Mitten im Chaos der Auseinandersetzungen wurde der 26-jährige Demonstrant Fawaz Fouad al-Samman von einem Soldaten mit scharfer Munition angeschossen. Zum ersten Mal seit Beginn der Proteste machte das Militär Gebrauch von diesem Mittel. Noch in der Nacht ins Krankenhaus eingeliefert, erlag Samman am nächsten Morgen den Folgen seiner Verletzung. Als erstes Opfer der Proteste im Jahr 2020 markiert sein Tod eine Zäsur. Der Tod des Demonstranten Alaa Abou Fakhr im Herbst 2019 hatte zwar auch für viel Aufmerksamkeit gesorgt, auch er wurde zum Märtyrer erklärt. Doch die Umstände des Todes von Samman sind für viele bedeutend: Getötet wurde er nicht nur im „Herzen der Revolution“ Tripoli, er fiel während der Ausschreitungen scharfer Munition des Militärs zum Opfer. Die Armee ist konfessionell durchmischt und bei vielen die angesehenste Institution des Landes. Seit Beginn der Proteste haben viele Soldatinnen mit den Protesten sympathisiert, es gab zahlreiche Szenen gegenseitiger Solidaritätsbekundungen. Viele sehen die Soldatinnen als Teil der vom Regime vernachlässigten Bevölkerung. Das Vertrauen in das Militär wurde zwar immer wieder von Einzelfällen gestört, wenn Soldatinnen unverhältnismäßig stark gegen Protestierende vorgingen. In der Hauptkritik standen jedoch meist die Politik und Polizei. Die Tötung Sammans durch militärische Hand hat nun das öffentliche Bild und Vertrauen in diese Institution massiv geschwächt. Das Militär bedauerte später über Twitter und in einem offiziellen Statement den Tod von Samman. Eine offizielle Untersuchung werde eingeleitet, hieß es. Die Armee bezeichnete Samman außerdem als „Märtyrer“. Die gleiche Bezeichnung wurde vom UN-Sonderkoordinator für den Libanon Jan Kubis genutzt. Ein Märtyrer ist Samman also, da sind sich alle einig. Aber ist er auch ein Held?

Am Wochenende nach Fawaz Fouad al-Sammans Tod in Tripoli. Plakat hinten: Der Märtyrer von Unterdrückung und Armut. Plakat vorne: Wir fegen euch raus. // Foto von Arthur Sarradin

Zumindest die Seite der Demonstrierenden scheint sich hier einig zu sein: „Natürlich ist er ein Held für uns. Als Märtyrer der Revolution hat er einen Heldenstatus“, sagt Wael Ayoubi, ein guter Freund von Sammans Schwester. Das bestätigen auch die landesweiten Reaktionen auf seinen Tod: Nach der Beisetzung, begleitet von hunderten Trauernden, folgte die „Night of Molotov“: In der bereits toxischen Mischung aus Hoffnungslosigkeit und Wut über die Politik sorgte Sammans Tod für noch mehr Öl im Feuer. In einer neuen Eskalationsstufe wurden erneut Banken, aber auch Soldatinnen und Armee-Fahrzeuge angegriffen. Demonstrierende warfen Molotowcocktails in Bankfilialen, einige brannten vollständig aus. Die Banken versuchen sich seitdem aus Selbstschutz einzumauern, errichten meterhohe Metallbarrieren. Eine aus Beirut angereiste Autokolonne unterstützte am darauffolgenden Wochenende den Trauermarsch und ein Sit-In in Tripoli. Hunderte hielten Poster mit Sammans Gesicht in die Höhe. Die Atmosphäre vor Ort war eine Mischung aus Trauer, Bestürzung und natürlich Wut. Eine Mahnwache, begleitet mit Kerzen, wurde zur Ehrung von Samman abgehalten. Sie war aber kein Moment friedlicher Trauer, sondern ein politisches Spektakel. „Unsere Kerzen sind Molotowcocktails“, wurde gemeinsam mit den bereits bekannten Beleidigungen von Politikerinnen gerufen. Rana Dimassi, Sammans Mutter, verlangt Gerechtigkeit für den Tod ihres Sohnes. Einige Freund*innen fordern die Todesstrafe für den verantwortlichen Soldaten. Unwahrscheinlich, denn seit 2004 ist diese im Libanon de facto außer Kraft gesetzt, es gab seitdem keine Hinrichtung mehr. Widerfahre Samman jedoch keine Gerechtigkeit, so die Familie, werde auch sie auf die Straße gehen und dafür kämpfen. In einem Fernsehinterview hob Fatima Fouad, Sammans Schwester, noch einmal den Märtyrerstatus ihres Bruders hervor: „Diese Revolution wird mit Fawaz’ Blut weitergeführt. Und wir wissen, dass wir mit noch mehr Blut bezahlen werden müssen, um dieses gesamte System – von den Banken bis zu den aufeinanderfolgenden Regierungen – zu stürzen.“ Insgesamt sind die nun seit mehr als sieben Monaten andauernden Proteste sehr dynamisch. Sie haben mal mehr, mal weniger Momentum; werden mal von mehr, mal von weniger Menschen auf der Straße getragen. Laut Demonstrant Jimmy Matar habe jeder auf einen neuen Trigger zur Mobilisation gewartet, der Tod von Samman hat genau dies erreicht. Er ist zum Helden, vielmehr noch zum Symbol für die Proteste in Tripoli und im ganzen Land geworden. Sein Gesicht findet sich auf Postern in der Stadt, sein Name ist in aller Munde.

Die Familie von Fawaz Fouad al-Samman in Tripoli. Sein Bruder hält Fawaz Fouad al-Sammans Kind in die Höhe. // Foto von Arthur Sarradin
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