„In den Camps werden jeden Tag Menschenrechte gebrochen“

Der Sozialmediziner Gerhard Trabert war im August und September als Arzt im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos. Er berichtet über die Zustände vor und nach dem Brand und das Leben von Geflüchteten mit Körperbehinderung in dem umstrittenen Camp.

Von Eva Manegold

Gerhard Trabert ist Arzt für Allgemein- und Notfallmedizin und Professor für Sozialmedizin an der Hochschule RheinMain. Seit Beginn diesen Jahres unterstützt er in den Flüchtlingslagern Moria und Kara Tepe auf Lesbos die medizinische Versorgung der Geflüchteten.

Vor einem halben Jahr war die Situation in den Lagern auf den griechischen Inseln sehr präsent in den Medien. Es wurden Verbesserungen gefordert, von Politiker*innen wurden Versprechungen gemacht: Man hatte den Eindruck die europäischen Länder wären bereit, die menschenunwürdigen Zustände zum Beispiel in den Camps Moria oder Kara Tepe zu verbessern. Hat sich dort tatsächlich etwas geändert? Geht es den Menschen besser?

Ich war im März in den beiden Camps und im August und September wieder. Im März lebten fast 20.000 Menschen in dem berüchtigten Moria-Camp, darunter ungefähr 8.000 Kinder – das war eine katastrophale Lebenssituation für die Menschen. Im August sind circa 5.000 Menschen aus dem Moria Camp verteilt worden. Ein kleiner Teil von ihnen, vor allem minderjährige Kinder, wurde auf die europäischen Staaten verteilt. Einige sind zudem aufs griechische Festland transportiert worden. Die meisten jedoch wurden in die Türkei abgeschoben. Nach dem Brand im September wurde das alte Moria Camp dann ja vollständig aufgelöst

Inwiefern hat sich die Lage in den Camps seit der Corona-Krise und aufgrund der folgenden Gesundheitsmaßnahmen geändert?

In Folge des Lockdowns durften die Menschen das Lager nicht mehr einfach verlassen. Sie waren dort eingepfercht: 150 Menschen teilen sich eine Toilette, duschen ist nur alle paar Wochen möglich, und dass bei Temperaturen bis zu 40 Grad! Die Hygienesituation war also katastrophal. Gleichzeitig hat sich die Polizei vor Ort zunehmend zurückgezogen und es gab einen bandenorganisierten Drogenhandel, gegen den kaum angegangen wird. Sexuelle Übergriffe, auch gegenüber Kindern haben ebenfalls zugenommen.

Im Camp arbeiten Sie vor allem mit Menschen mit Behinderungen. Wie viele Menschen sind das ungefähr?

Sehr viele Menschen kommen aus Kriegsgebieten wie Afghanistan und Syrien. Ich war erschüttert, wie viele von ihnen Amputationen, hauptsächlich der unteren Extremitäten, Querschnittslähmungen haben bzw. generell unter erheblichen Bewegungseinschränkungen aufgrund all dieser Verletzungen leiden. Im Camp gibt es nur eine einzige Physiotherapeutin, die Behandlungen anbietet. Insgesamt waren aber in Moria wahrscheinlich mindestens 40% der Personen körperbehindert, im Kara Tepe Camp sind es wahrscheinlich sogar bis zu 50% der Menschen.

Mit einer Körperbehinderung in so einem Lager zu leben – was bedeutet das konkret?

Die UN-Behindertenrechtskonvention und die EU-Aufnahmekriterien schreiben vor, dass Menschen mit einer Körperbehinderung besonders schutzbedürftig sind. Damit haben sie ein Recht auf eine dementsprechende Behandlung – dem entspricht Europa aber überhaupt nicht. Etliche Personen, hauptsächlich Männer nach Schussverletzungen oder Verletzungen durch Granaten und Bomben, sitzen im Rollstuhl. Weil es kein Training in den Camps gibt, ist es sehr unwahrscheinlich, dass sie überhaupt einen Teil ihrer Mobilität wiedererlangen. Aber nicht nur Hilfsprogramme vor Ort sind nötig. Diese Menschen sollten so schnell wie möglich aus den Lagern herausgeholt werden, um sie auf die europäischen Länder zu verteilen und sie dann endlich angebracht behandeln zu können.

Das Gelände ist hügelig, die Behausungen provisorisch und man lebt auf extrem engem Raum miteinander. Wie sieht das Leben für einen Menschen mit Behinderung im Camp aus?

An einem Beispiel wird dies am besten deutlich: Ein junger Syrer, Abdulkarim, lebt im Moria-Camp zusammen mit zwei anderen jungen syrischen Männern – beide ebenfalls körperbehindert. Ihre Behausung ist nur ungefähr 2 auf 3 Meter groß. Abdulkarim ist auf einen Rollstuhl angewiesen. Die Fortbewegung im Camp ohne richtige Straßen ist also extrem schwierig. Zudem muss er sich selbst den Katheter legen, da seine Darm- und Blasenfunktionen stark eingeschränkt sind. So jemand hätte gar nicht erst in das Moria Camp aufgenommen werden dürfen!

Gibt es denn keine offizielle Unterstützung in dem Camp?

Hilfsmittel wie Prothesen und Krücken sind nicht ausreichend vorhanden und müssen dauernd provisorisch repariert werden. Abdulkarim zum Beispiel bekommt von der Verwaltung nicht genug Katheter. Das zwingt ihn am Tag ungefähr drei Katheter privat dazuzukaufen. Das UN-Flüchtlingswerk und auch die zuständigen offiziellen Stellen sind sich dieser Situation bewusst, aber es wird nichts dagegen getan.

 Gleichzeitig werden Menschen mit Behinderung aus dem Camp abgeschoben.

Das gehört leider zum Alltag. Kürzlich sollte Khalid – ein junger Syrer im Rollstuhl und mit einer 10-Monate alten Tochter – abgeschoben werden. Trotz seiner Behinderung und ohne offizielle Begründung. Das gesamte Verfahren ist dabei absolut suspekt, die Gründe für die Abschiebung wurden nie erläutert. Ihm wurde, wie vielen Menschen dort, nach einem Interview ein ihm unverständliches Schriftstück vorgelegt, welches er unterschreiben sollte. So erklären sich viele Menschen mit einer Unterschrift einverstanden mit der eigenen Abschiebung, ohne dass ihnen genau erklärt wird worum es geht und was ihre Rechte sind. Mittlerweile haben wir es in diesem Fall aber geschafft einen Anwalt einzuschalten und die Abschiebung fürs Erste auszusetzen.

Wie war die Situation direkt nach dem Brand Anfang September im „alten“ Moria Camp?

Bei dem Brand im Moria-Camp sind nach Auskunft zahlreicher Geflüchteter drei Kinder und eine Mutter verbrannt.  Die Angehörigen der Opfer wurden dann schnell aufs Festland verlegt, bei Todesfällen im Camp ist dies eine altbekannte Verhaltensweise der griechischen Behörden.

Insbesondere lebensbedrohlich war der Brand und das Chaos danach für Menschen wie Abdulkarim, der zwar überlebt hat, aber die ersten Nächte mit Fieber, Bisswunden von Ratten und Kakerlaken und gelähmten Beinen am Straßenrand verbracht hat. Aber auch ansonsten haben wir mitangesehen wie tausende Menschen am Straßenrand schlafen, leben, vegetieren. Ich kenne diese Bilder aus Mumbai in Indien oder Dhaka in Bangladesch, aber nicht aus Europa. Wir haben zahlreiche Patienten behandelt, vor allem Kinder mit infizierten Wunden, oft Brandverletzungen. Ein weiteres riesiges Problem waren die einsetzenden Magen-Darminfektionen und Wurmerkrankungen. Weil die Menschen kein sauberes Trinkwasser haben, “zapfen“ sie teilweise aus Verzweiflung Abwasser an. Bei einer der ersten Essensausgaben standen ca. 500 Menschen in einer nicht enden wollenden Warteschlange an.

Was hat sich mit dem Umzug in das Moria Camp 2.0, auch genannt „Großes Kara-Tepe Camp“ verändert?

Das neue Camp ist schon jetzt die Hölle. Abdulkarim etwa hat große Angst, denn im neuen Camp gibt es nur Schotterwege und auch keine Toilette, die er menschenwürdig benutzen kann. “Meine” Patienten vermitteln mir, dass sie höchstens einmal am Tag etwas zu essen bekommen, wenn ich ihnen sage, sie sollen dreimal täglich nach dem Essen eine Tablette einnehmen. Die medizinische Versorgung der Menschen ist katastrophal, in den Krankenhäusern werden die Menschen offen rassistisch behandelt oder werden unbehandelt wieder ins Camp zurückgeschickt. Bei schweren Beinverletzungen werden keine Hilfsmittel wie Krücken oder Schmerzmittel zur Verfügung gestellt, es gibt keinen Fahrdienst zurück ins Camp. Insgesamt fehlt es an Trinkwasser, Nahrung, sanitären Einrichtungen, genügend medizinischer Versorgung, und an einem würdevollen und rezeptvollen Umgang mit den betroffenen Menschen.

Wie sollte die EU und auch Deutschland kurz- und mittelfristig mit den Camps auf den griechischen Inseln umgehen?

Natürlich helfen physiotherapeutische Programme und eine bessere Versorgung. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auf Lesbos jeden Tag Menschenrechte gebrochen werden – und auch die EU-Aufnahmekriterien werden einfach ignoriert. Für mich kann das nur eins heißen: diese Lager, ob neu oder alt gehören aufgelöst! Unser Innenminister Seehofer verweigert sich den Angeboten der Sicheren Häfen, wie auch Bayreuth, und der Länder Berlin und Thüringen, die anbieten ein zusätzliches Kontingent an Menschen aufzunehmen. Diese Neuausrichtung der europäischen Asylpolitik ist geprägt von europäischem Nationalismus, geprägt von Rassismus, verhüllt durch nichtssagende angeblich staatspolitische Notwendigkeiten, und geprägt von der endgültigen Verabschiedung von dem Fundament der europäischen Identität, nämlich den Menschenrechten. Ich kann nicht verstehen, was Menschen mit so viel Macht an Ungerechtigkeiten beschließen.