AD ABSURDUM: Kinder

Von Alexandra Wolff und Antonia Trieb

Manchmal wäre man doch froh, könnte man Kinder genauso leicht loswerden wie Hunde mit Giftködern. Doch das gestaltet sich meist schwieriger als gedacht, werden sie doch von ihren Erzeugern umschwirrt und betüttelt. Die vom Geschrei ihrer Blage schon hirngeschädigten Eltern vertun ihre Verzweiflung mit Liebe und fordern unverfroren die unschuldigen Nachbarn und Mitmenschen, den Kollateralschaden ihres Strebens, Rücksicht auf den Abkömmling zu nehmen. Nun ist es aber verständlich, dass das Kind so schreit den ganzen Tag: Genau wie uns alle belastet es die Bürde der eigenen, ungewollten Existenz. Doch statt den Schuldigen, den frevelhaften Eltern, die in ihrer Hybris und ihrer Verzweiflung der Bedeutungslosigkeit des eigenen Lebens zu entfliehen, den Fluch des Seiens rücksichtslos einer weiteren Seele aufdrangen, entzieht das Balg durch sein Qualgeschrei nur den unbeteiligten Mitmenschen den Lebenswillen. Selten hat ein Mensch das Gemüt eines Heiligen und kann die schlaflosen Nächte, den bedeutungslosen Lärm und die schier grausame Willkür der jungen, manierlosen Existenzen tolerieren um sich der bedingungslosen Liebe und ungetrübter Ehrlichkeit der Kinder erfreuen. Neben solchen Verblendeten stehen die einfachen Bürger, alle von ihnen Kinderhasser. Und zu Recht! Sich nach Jahren des Strebens nach Karriere, Respekt und Eigenständigkeit der Diktatur der Darmentleerung und der Nahrungsaufnahme der Jungen hinzugeben, welch eine Schmach für alle Klardenkenden und welch eine Last für alle Opfer der Proximität. Kinder zu hassen ist, solange es nicht die eigenen sind, vollkommen natürlich. So sieht das auch Till Lindemann, als er über seinen inneren Zwiespalt bezüglich der Ertragbarkeit von fremder Brut singt. Doch obwohl dem Menschen so vieles zuwider ist, Anrufe bei Behörden, Nachbarn mit schlechtestem Musikgeschmack, finden Kinder doch einen ganz besonderen Ort im verbitterten, nur zu Hass fähigen Herz.

Um die Fülle der negativen Emotion wirklich zu verstehen, muss der Mensch sich nun also einer etwas unangenehmen Wahrheit stellen: Dem Neid. Ja, denn auf Kinder kann man schrecklich neidisch sein. Wann konnte der einfache Erwachsene das letzte Mal in einer stresserfüllten Situation nach Herzenslust Schreien und Weinen? Wann wurde er das letzte Mal in den Arm genommen, getröstet, ermutigt? Konnte er je nur fordern und beschweren und die Nerven seiner Mitmenschen rücksichtslos strapazieren, und sich doch der bedingungslosen Liebe seiner Liebsten gewiss sein? So oft muss jedes erwachsene Etwas das Verlangen aus Frust zu Schmollen und Treten herunterschlucken. Die Existenz des Kindes scheint ungetrübt von solch bitteren Komplexitäten und der zermürbenden Eigenverantwortung des erwachsenen Lebens. Eine dreiste Lüge wäre es, zu sagen, dass sich nicht ein Jeder zuweilen danach zurücksehnt. Und wie natürlich es ist, all jene glühend zu hassen, deren Privilegien man niemals wieder teilen wird! So ist es nicht überraschend, dass verschiedenste Menschen dem innigen Wunsch der Rückkehr in den beschützten Zustand des Kindes verschiedenste Formen der Auslebung geben. Autonepiophilie, die Sexualpraktik des Rollenspiels von Erwachsenen verkörperter Kinder und Vormünder, die den von der tristen Welt der Volljährigen drangsalierten Männern und Frauen für kurze Zeit die Flucht in das simple Gemüt des verwöhnten Kindes und die behütete, zärtliche, einfache Welt der Unmündigen ermöglichen. Wie verständlich! Niemand auf dieser Erde erfährt mehr offene und unverblümte Hingabe als das Kind. Und das Kind, hilflos und naiv, kann nicht anders als diese Hingabe vertrauensvoll anzunehmen. Dies ist wohl was abenteuerlustige Paare durch Erwachsenen-Windeln und Spitznamen wie ‘Daddy’ suchen; die Ebene des kindlich unkomplizierten Liebens und Geliebtwerdens. Losgelöst von sexuellem Verlangen nach dem jungen Körper oder den unbehaglichen Hypothesen Freuds, der den Kindern das sexuelle Verlangen nach der Mutter generalisierend unterstellte, ist der sexuell kontextualisierte Regress ins Kindesgemüt als ein erster, unbeholfener Schritt auf dem Pfad des Übermenschentums nach Nietzsche zu erkennen.

Dieser Weg ist ein steiniger, denn sind die selbstgestrickten Blagen geboren, obliegen sie nichts als den Erwartungen der mit lebenslänglicher Verantwortung geknebelten Eltern. Es entsteht eine Symbiose zwischen Erzeuger und Erben: Emotionaler Enthusiasmus und finanzielle Bürgschaft der Eltern gegen die Erfüllung der elterlichen verdrängten Träume und lückenlose Eingliederung in bestehende Verhältnisse. Metaphorisch gesprochen kommt der Geist des Kindes anfänglich kamelartig daher, denn demütig den gängigen Werten, Normen und Obrigkeiten unterjocht soll möglichst effizient die Konkretisierung des Seins der Eltern vorangetrieben werden. Doch es kommt der Tag, an dem sich das gehorsame Kind aufbäumt, im besten Fall gegen alles und jeden, und so die Metamorphose zum Löwen durchläuft, der sich die Freiheit von gesellschaftlichem Druck, Bindungen, Normen, Tabus, dem Status Quo und all den aufgeladenen Erwartungen macht. Das was andere wollen, wird nur bedingt, bis gar nicht vom Löwen gewollt. Das Kind befindet sich in der von Empfindsamkeit und Rebellion geprägten Phase des Sturm und Drangs und lehnt sich gegen Bestehendes auf, so ist es klar, wovon es frei ist, aber nicht wozu. Der Wille zur Macht und damit der Weg zum Übermenschen liegt für Nietzsche im regressiven Prozess zurück zum unbekümmerten Kind. Der Neubeginn soll einen unvertrübten Blick auf die Dinge und sich selbst erlauben, sodass aus dem Menschen ein Schaffender und Spielender wird. Frei von kafkaesker Fremdbestimmung und mit vakantem Geist sucht der Mensch nach der eigenen Bestimmung. So ist der anfängliche Kinderhass vielleicht doch nur ein von Neid getriebener Urinstinkt, der uns unweigerlich über den individuellen Drang und Sinn des Menschen stolpern lässt, ein selbstwirksames und eigenwilliges Leben zu führen.

Antonia Trieb
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