Jura für Arme

Christian Ködel

Man stelle sich folgendes Szenario vor: Jurastudenten nehmen in der Cafete Platz, weil ihnen das RW-Café entschieden zu kostspielig ist. Thema der Gesprächsrunde ist mal wieder der neueste Artikel des aufgeblasenen Vogels, worin er sich in aller Ausführlichkeit über die im Regionalexpress erfahrenen Zumutungen beklagt. Derartige Snob-Probleme stellen sich den anwesenden Studenten aus der fränkischen Provinz freilich nicht. Vielmehr beginnt man, sich den eigenen Erfahrungen mit dem 9€-Ticket zuzuwenden.

Da wären etwa die nervigen Boomer, die nun endlich ihren seit zehn Jahren geplanten Ausflug nach Nürnberg in die Tat umsetzen und dabei nicht umhin kommen zu glauben, ihre sperrigen E-Bikes mitnehmen zu müssen und damit pro Fahrrad drei potenzielle Sitzplätze beanspruchen. Immerhin lassen sie dadurch mal ihre Umweltdrecksschleudern stehen. Darunter leiden allerdings mittellose Studenten, die jede freie Minute nutzen, um die Bundesrepublik zu erkunden und dabei ihre Abenteuerlust voll ausleben.

Besondere Aufmerksamkeit bei der Unterhaltung erhalten die Erzählungen der kräftezehrenden Fahrten nach Sylt und in den Südwesten Deutschlands. Hotels sind ohnehin viel zu teuer und wenn man finanziell schon mal die Möglichkeit hat, einen solchen Trip zu unternehmen, dann muss man auch möglichst viele Städte in möglichst kurzer Zeit besichtigen. Der optionale Schlaf erfolgt deshalb im letzten Bummelzug oder auf beinahe heimeligen Bahnhofsbänken, wobei anzumerken ist, dass im Zuge der Etablierung der defensiven Architektur (vor allem in Magdeburg) die Suche geeigneter Schlafplätze an den Bahnsteigen zunehmend erschwert wird. Empfehlenswerte Übernachtungsgelegenheiten finden sich insbesondere in Rostock, Saarbrücken oder auch in Donauwörth, wohingegen die Depri-Bahnhöfe in Mannheim, Osterburken und Offenburg alles andere als gemütlich sind, von Hamburg, Frankfurt und Stuttgart ganz zu schweigen. Bei Durchgangsbahnhöfen ist aber in jedem Fall zu beachten, dass des Nachts Güterzüge durchzurauschen pflegen. Waschen kann man sich im Rhein, je weiter flussaufwärts, desto sauberer wird man. Der Nachhauseweg aus dem Südwesten der Republik in die geliebte fränkische Heimat gestaltet sich auch alles andere als einfach – der ICE kommt jedoch keinesfalls in Frage. Deshalb dauert die Heimfahrt über 10 Stunden und führt aufgrund fehlender Zielangaben am Zugabteil unnötigerweise auch noch über Kirchenlaibach, wo man aber immerhin auf den hochgeschätzten agilis aufspringen kann, der mit einem Stammplatzbereich ausgestattet ist und dafür auf die erste Klasse verzichtet. 

Am Stammplatz in der Cafete, wofür die fränkischen Kleingeister allzu gerne ein von der Decke hängendes Schild hätten, ist inzwischen der erste Tee geleert, den sie sich 60 Cent haben kosten lassen, was den angehenden Juristen in der Runde zunächst recht teuer erscheint. Um die Durchschnittskosten pro Becher zu senken, wird beim zweiten Mal nur heißes Wasser (10 Cent) mitgenommen und der zuvor sofort nach der Ziehzeit entfernte Teebeutel erneut verwendet, was den Preis pro Becher auf eine verschmerzbare Höhe sinken lässt. Dadurch bleibt mehr Geld für Käselaugenstangen und Leberkeeslabla. Fernab beider RW-Gebäude ist dieses wirtschaftlich orientierte Konsumverhalten ohne anschließende Ächtung im Bereich des Möglichen. So vergehen die Stunden, ohne dass es ihnen in den Sinn käme, auch nur einen Fuß in die RW-Bib zu setzen und sich mit Lehrbüchern oder Kommentaren zu quälen. Während Kommilitonen dort ihre Stunden zum Flexen fristen und das Massengrab doch eher als Laufsteg zweckentfremden, nutzen die fränkischen Provinzler ihre Zeit zum Schach spielen oder mokieren sich über so manche Zeitgenossen und deren unglückliche Versuche, überdurchschnittlich reich zu wirken, sei es nun durch eine maximale Anzahl an Apple-Produkten, wovon freilich nur ein Bruchteil zum wirklichen Arbeiten benötigt wird, oder durch beinahe dezente Markenzeichen, die inzwischen abnormal überdimensioniert geworden sind, damit auch noch der allerletzte Proll schnallt, dass der Träger dieses pinken Poloshirts (bzw. dessen Papi) wirklich kein Geringverdiener ist. 

Doch irgendwann ereilt jeden einmal eine Vorlesung, weswegen der Stammplatz doch schweren Herzens irgendwann verlassen werden muss und man hinüber zum RW-Gebäude pilgert. Unterwegs kommen einem natürlich wieder die hochmotivierten Special Forces entgegen, die sich mal wieder eine kleine Auszeit gewähren und hochnäsig in den Frischraum stolzieren. Im RW-Gebäude angekommen muss freilich erstmal die inzwischen geleerte Trinkflasche am kostenlosen Wasserspender aufgefüllt werden, wenngleich man sich dadurch als mittelloser Student ohne Ehrempfinden brandmarkt. Aber sei’s drum. Vorbei am RW-Café kommt man schließlich am richtigen Hörsaal an, den man völlig schamlos mit seinen laut klackernden Sandalen betritt. Während der Vorlesung überkommt einen dann aber doch immer wieder das Bedürfnis, sich der Schachgöttin Caissa hinzugeben, weswegen einige Partien Onlineschach auf dem veralteten Chinahandy gespielt werden. Zwanzig Partien später ist zum Glück die Vorlesung beendet – der Magen knurrt langsam. Eilends wird sich aufgemacht zurück in die Cafete, denn der erfahrene Mensagänger weiß, dass dort die Portion Pommes einerseits erschwinglicher ist und zudem auch noch bedeutend größer. Gut genährt tritt man nach dem harten Unitag den Heimweg an, um sich sodann sofort ins Kreuzer aufzumachen und den Nachmittag dort zu verbringen. Kurz und gut – das Jurastudium lässt sich auch auf ranzigem Weg bestreiten. 

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