Glück im Spiel und Pech in der Liebe? Über Kunst und ihre Konsumierbarkeit.
Das Rumgetanze davor, der Speichelaustausch, das ewige Beeindrucken und das sorgfältige Beeindruckt-wirken führt zum sog. „Ficken“, dem Gelegenheitsbeischlaf, dem Bettsport der chronischen Singles, dessen Jagdgebiet die Tanzfläche der Bayreuther Clubs ist. Für schwache Nerven ist dies nichts. Nein, wäre man gezwungen, sich selbst bei diesem Schauspiel in der Gottesperspektive zu betrachten, so kämen einem die Tränen. Der bloße Akt, mit den unbeholfenen Körpern ineinander hinein zu schaukeln, würde den Zusehenden zum Lachen bringen, so Ernst sich die Partizipanten auch nehmen.
Und geht der Akt erst einmal los, ist mit dem (partiellen) Abstreifen der Kleidung nicht gleichsam das Abstreifen sämtlicher Scham zu erwarten. Beim Ficken entstehen wilde Konstrukte. Mit einem Mal ist es möglich, den Partner zu lecken, doch ein Küsschen auf die Wange scheint eine Grenzüberschreitung. Man will sich so viel und so wenig wie möglich berühren. Namen sind bereits vollständig vergessen, doch Spitznamen wären anrüchig. Der Genuss geht irgendwo zwischen der Sorge über die Lautstärke des ungeölten Bettgestells und dem Baucheinziehen sterben. Alles ist Kalkulation des fortgeführten Rationalisierungsprozesses – Sollte man versuchen zu stöhnen? Missionarposition sei langweilig, hat man gehört, auch wenn sie die letzten Male eigentlich ganz nett war. Ist es angebracht, den Partner etwas zu würgen, oder wäre das Körperverletzung? Auch in diesen Schäferstündchen ist es prohibitiv schwierig, den Partner einfach zu fragen, denn das Nachfragen zerstört diese auf Intuition oder göttlicher Eingebung basierende Vorstellung von einfacher körperlicher Verschmelzung. Davon abgesehen, wäre es noch viel schwieriger, eine ehrliche Antwort zu erhalten. Der Akt ertrinkt an seiner eigenen Ästhetik wie eine Biene in Honig. Am nächsten Tag bleibt neben ungünstigen Knutschflecken und merkwürdigem Geschmack im Mund ein Hauch Existenzangst.
„Der kleinste gemeinsame Nenner zweier Fickenden ist diese Vorstellung von dem, was sich wohl gehört, was als besonders aufregend gilt, oder was einfach objektiv geil gilt.“
Fast ein Segen ist es, dass die wichtigen Teile des Events im Kopf stattfinden. Jeder “Fickende” (damit sind sowohl Aktiv- als auch Passivpart(s) gemeint) hat eine Vorstellung, wie es aussehen sollte, Sex zu haben. Klar, hat doch bestimmt jeder mindestens einmal im Porno-Himmel gastiert oder zu RomComs geflennt, wo eine impertinente Vorstellung davon vermittelt wird, wie der Akt zu laufen habe. Ein jeder hat ein Bild vor dem inneren Auge, wie die der sog. Ficker, den es zu verkörpern gilt, gerne Sex hat. Eine Art Kontrollsucht macht sich bemerkbar. Das Schlimmste: Jeder hat einen kleinen Patriarch im Kopf, der unablässig flüstert, was der Partner wohl im Moment begehrt. Stetig schwirrt im Kopf des angehenden Hedonisten das Bewusstsein um die Fantasien, die die eigenen Aktionen gerade im Kopf des Partners erblühen lassen. Der junge Mensch ist trainiert, sich durch geschickte Blickwinkel neu zu erfinden. Dieser Instinkt zur Inszenierung ist den digitalen Generationen in die Wiege gelegt, und auch die nächtliche Dunkelheit und der Rausch einer gelungenen Feier schützen die Verkopften nicht vor ihm. Der kleinste gemeinsame Nenner zweier Fickenden ist diese Vorstellung von dem, was sich wohl gehört, was als besonders aufregend gilt, oder was einfach objektiv geil gilt.
Doch woher rührt diese ängstliche existentielle Unsicherheit? Diese Performativität lässt sich leicht mit den Prozessen erklären, die zum Fick führen. Die unausgesprochenen Spielregeln von Fleischversammlungen im digitalen oder realen Markt ähneln sich stark und sind schnell durchdrungen. Die Kategorisierungsmechanismen der Sichanbietenden werden habituell mit unterschiedlichem Grad der Selbstüberwindung, durch Swipen, Schreiben oder Sprechen ausgeführt. In Rekordzeit wird entschieden, ob das Gesehene dem verfleischlichten Ideal mit annehmbarer körperlicher Anziehungskraft und ggf. gefühlsmäßigen oder intellektuellen Vereinbarkeit entsprechen könnte. Durch das schier unendlich wirkende Angebot an „willigen“ Menschen, wird der Wählende förmlich dazu genötigt, zu ökonomisieren. Unendliche Profilbeschreibungen oder zwischen falschen Nebel und einer sich unkontrolliert bewegenden Menschenmasse vorgetragenen Romane über das eigene Leben sind nicht mehr zeitgemäß, ebenso wenig zweckmäßig für das Konsumieren und Konsumiertwerden. Erkennbar wird hier, wie stark diese Suche nach körperlicher oder emotionaler Nähe bewusst oder unterbewusst rationalisiert wird. Die eigenen und fremden Rationalisierungsprozesse zwingen das Individuum zu einem Maß an Selbstdarstellung und -inszenierung. Der moderne Zeitgeist offenbart sich dem Marktakteur auf faszinierendste Art.
„Ob jemand gefickt wurde, ist bekanntlich etwas gänzlich anderes, als jemanden gefickt zu haben.„
Sex als Politikum ist schwierig (aus einem neutralem Standpunkt heraus) zu betrachten, doch lassen sich vom erfahrenen Betrachter vorallem bei sog. Situationssex in allgemeinhin bekannten Handlungsweisen neoklassisch anmaßende Gesetzmäßigkeiten erkennen, welche gänzlich konträr zu der romantischen Vorstellung von “Liebe (machen)” zu sein scheint. Die konsumorientierte Logik, um den schier endlosen Andrang an neuen Konsumenten zu steuern, resultiert im Zwang zur Entwicklung von standardisierten Techniken, um rationale und effiziente Nutzenmaximierung zu betreiben.
Eva Illouz beschreibt in ihrem Werk “Warum Liebe weh tut” sechs Rationalisierungsstrategien, welche sich der Wählende bewusst oder unterbewusst verwendet, um wählbare Optionen, d.h. tatsächliche Menschen, systematisiert bewerten, aussortieren oder weiterzuverarbeiten. Diese Form von radikaler Begegnung ist laut Illouz zu einem hochgradig erkenntnisförmigen Etwas geworden: die verschiedenen Akteure, Wählender und Zuwählende zugleich, treffen sich auf dem sog. Singlemarkt, vergleichen sich mit den anderen, die anderen miteinander und wählen dann die “beste Option”. Der Wettbewerb ist offen und die Konkurrenz, je nach eigener Physis (oder Intellekt), ist mehr oder weniger hart. Die eigene Wahl ist ja wohl die direkte Reflexion von dem, was man in sich selbst sieht und was man daher für sich selbst adäquat empfindet. Die eigene Wahl des (Fick-)Partners wird für außenstehende Akteure als (in-)direkte Reflexion des eigenen Selbstbildes und -wertes aufgefasst. So mag die vermeintliche Selbstinszenierung aus einer in sich ruhenden Authentizität herrühren, oder aber die Präsentation künstlich aufgeblasener Dispositionen bzw. die vollkommene Neuentwicklung einer fiktiven Persona sein.
Aber gerade weil die raumzeitliche Immanenz der Thematik des Gelegenheitsbeischlafes in einer Art Tabuisierung resultiert, und somit die Analyse ihrer Gesetzmäßigkeiten durch Scham und gespielte Abgeklärtheit verhindert, muss darüber gesprochen werden. So wie Adorno als Soziologe durch die prismatische Brechung der Kunst gesellschaftliche Phänomene aufzudecken versucht, soll hier der erste Versuch einer dialektischen Aufdeckung von Zeitgeist passieren, der durch den Einzug einer starken Sexualisierung des Alltags und damit auch fragwürdige Performativität erfährt.
Natürlich lässt sich behaupten, casual sex passiert aus Lust und Laune, weil es sich gerade anbietet, weil es Spaß macht und das mag auch oft so sein. Doch die Sache selbst bleibt nicht unberührt und der Glaube, dass die Sache ihrer selbst Willen da ist, hat Adorno in Bezug auf Kunst als naive Fiktion bezeichnet. Demnach ist auch das sog. “Ficken” nicht um seines selbst willen da, wenn man Ficken als Kunst betrachtet, was im Folgenden als Grundthese dienen soll. Adorno geht in seiner ästhetischen Theorie von einer Aufdeckung des Widerspruchs zwischen der Beziehung von Kunst und Gesellschaft aus, die einen Zwang zur Doppelschlechtigkeit einer ästhetischen und gesellschaftlichen Betrachtung in sich birgt, d.h. die (scheinbaren) Widersprüche im Kunstwerk, hier dem sog. “Ficken”, zwischen der Grobschlechtigkeit und Banalität auf der einen Seite, aber das trotzdem simultane Bemühen um Sinnlichkeit qua Maximin-Regel. So wird die Kunst zum soziologischen Instrument, um größere Zusammenhängeaufzudecken, denn alleinig durch ihre bloße Form, z.B. in der Abstraktion der Welt, liegt im Verborgenen des Werkes ein gesellschaftliches Ding, eine “Wahrheit”. Also heißt es für den Gelegenheitssex auch, dass sich im Akt selbst nicht nur eine ästhetische bzw. sinnliche Erfahrung verbirgt, sondern auch eine gesellschaftliche Wahrheit in sich trägt: der zunehmende Rationalisierungsdrang und Zwang zur Optimierung der Prozesse zur Vereinfachung des Konsums.
Es mag vielleicht so scheinen, als hätte sich der Sex im Laufe der Zeit von einem privaten, intimen Machen zu einer Art Statussymbol und als Indikator für den Grad des Begehrenwerdens entwickelt. Zur Sicherung der gewünschten sozialen Position spielt Sex eine entscheidene Rolle: Ob jemand gefickt wurde, ist bekanntlich etwas gänzlich anderes, als jemanden gefickt zu haben. So ist der Akt in sich selbst und innerhalb der realen Welt eine komplexe Verhandlung hierarchischer Positionen und der darauf folgende Sprechakt in der realen Welt ebenso. Im bisher beschriebenen Rationalisierungsprozess fehlt die Benennung einer der essentiellsten Komponente, welche auch Adorno in Bezug auf Kunst realisiert sieht: das zur Ware werden des Kunstwerks, bzw. hier der Person und ihrer Sexualität. Im Konzept des Gelegenheitsbeischlafes hat Persönlichkeit, Eigenheit und Integrität wenig Platz. Man fickt, konsumiert also die Person, und nicht die Persönlichkeit. Um eine einfach konsumierbare Narrative zu erschaffen, werden jegliche authentischen Charakteristiken heruntereduziert, bis nur noch eine fleischgewordene Verkörperung einen sexualisierte Idealvorstellung bleibt. So wie Kaufentscheidung von Kunstwerken davon abhängt, ob sie ins restliche Farbkonzept des Interieurs passt (Adorno bezeichnet diese Art von Kunstschaffen als “Hotelmalerei”), so geschieht der Transfer von erlernter und kultivierter Performativität vom Alltag auch in den Akt, um sich dem Publikum bzw. den Nachfragern anzupassen.
Statt dem Ennui des Lebens, in dem Passion die Leute verstört, mit dem Ficken den Rücken zu kehren, fällt man im Schauspiel nur noch mehr in sie hinein. Performativ zu versuchen, aufrichtigen Spaß und Genießen in fremden Betten zu finden ist schwierig. Die zu erstellende Kunst ist trotz bestem Willen im rationalisierten Prozess zur Ware geworden. Der sonst so große Drang zur Authentizität verliert sich zwischen der vermuteten Diskrepanz zwischen eigenen und fremden Bedürfnissen. Denn noch drückender als der sog. „Druck“ zum Fick ist die mögliche Uneinigkeit bzgl. des fast genau so starken Bedürfnisses für das Kuscheln danach. In utopischer Vorstellung ist der nächtliche Besuch der miaesquen Etablissements für so manch eine tanzende Gestalt nicht nötig. Die physische und auch seelische Nähe, deren Facsimile dort mit dreckigem Rumlecken und Grinden auf der Tanzfläche hinterhergejagt wird, wäre nachhaltiger von wahren intrasozialen Bekanntschaften gefüllt. Wo Platz für einen Austausch der unverblümten Menschlichkeit ist, wäre auch ein Fick etwas mehr befriedigend.
Von Antonia Trieb und Alexandra Wolff
Graphiken von Antonia Trieb
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