AD ABSURDUM: Spektakel

Brot und Spiele. Wahrlich, in so manchem Dinge hat sich wenig geändert seit der Zeit des tödlichen Blutsports. Andere Dinge wiederum haben sich verschlimmert. Der Blutsport wäre im heutigen Zeitalter wohl so manchem zu langsam. Ja, die Uhr tickt immer schneller. Bücher werden kürzer, Dates enden früher und da jeder Song jetzt ein Sound sein muss, wurde die Bridge kurzerhand pensioniert. Wir befinden uns, so klagt mancher Rentner, in den Endzeiten. “Das Internet hat die Jugend ruiniert.” Diese eindimensionale Betrachtung zeichnet natürlich kein repräsentatives Bild und ist geradezu lachhaft. Wenn das Ende naht, liegt das wohl viel eher an den Rentnern als an dem Internet. Doch die ewig wachsenden und sich entwickelnden Konsum-Methoden des Internets zeigen einige durchaus wunderliche Phänomena auf.

Da ist das Wort – Konsum. Es ist die Natur des Menschen, immer mehr zu wollen, ist die gängige Meinung. Doch schon in den Siebzigern, als der Kapitalismus in Europa seine Hochzeiten feierte, klagten die Künstler und Philosophen, dass es wohl diese materialistische Plage des Westens sei, die das Volk dazu erziehe, Überleben und Lifestyle zu vermischen und sich einzureden, man brauche immer, immer mehr. Es kann nicht verleugnet werden, dass so viele Einflüsse der modernen Welt uns einflüstern, dass die monotone Geldscheffelei (oder im Fall des Studierenden die gleichsam dröge Vorbereitung auf diese) nur mit der Ausgabe jenem Gescheffeltem Abhilfe zu verschaffen sei. Kaum ein Ort, kaum eine Tätigkeit kostet kein Geld. 

Da spaltet sich die verzweifelt eingeödete moderne Gesellschaft in zwei Lager. Die Shein-Shopper, Apple-Ecosystem-Huldiger und unverblümten Maximalisten, welche ganz im Geiste der vorherigen Generation dem Kapitalismus und seinen Annehmlichkeiten frönen, und ihre kleine Ecke der Welt mit den schönsten Dingen füllen, die es zu finden gibt. Wer sagt, dass das Eine richtig und das Andere falsch ist? Der Eifer nach dem Besitz von Schönem und Guten hat schon Zivilisationen fallen gesehen, doch ist er es nicht auch, der uns die Kunst und die Philosophie schenkt? So mag es manchen unter uns schwer im Magen liegen, von kollabierenden Fabriken in Bangladesh, Schwermetallgehalt in Stofffarben und CO²-Ausstößen zu lesen, doch der Langeweile und dem modernen Ennui werden auch diese grausigen Gedanken dem Schnellkonsum von heute wohl kaum Einhalt geboten. Schließlich ist für das menschliche Tier die Langeweile die größte aller Foltern: Isolationshaftierte hetzen ihre Wärter zur Verprügelung auf, genau wie unterstimulierte Ratten langsam anfangen, sich die Gliedmaßen abzunagen.

Sobald jedoch das unterprivilegierte Volk aufsteigt und sich den Habitus des Geldausgebens zu eigen macht, muss sich die Oberschicht neue Werte mit neuer Währung schaffen. Das, was beim arbeitenden Volk knappes Gut ist, wird nun zum neuen Objekt der Begierde: Zeit. So wie die konsumierte Ware dem Proletarier als Stütze seiner Identität dient, so dient den anderen das in der Freizeit Erlebte als neues Ausdrucksmittel der eigenen Person. Jenen, denen die Bräuche des Maximaterialismus aus Umweltschutz- oder Lagerraum-Gründen zu unschicklich geworden sind, hält die Maschine auch ein Produkt bereit, nach dem sich folglich verzehrt werden soll. Die Narrative, sich selbst als Übermenschen zu inszenieren, der über dem schnöden Besitz steht, der wahren Reichtum im opulenten Erfahrungsschatz sieht, wird zum Selbstläufer. Plötzlich entpuppt sich jeder sonst so Konforme als Abenteurer, als Weltbürger, als wahrer Rebell, zeigt sich ablehnend gegenüber starren Strukturen.

Man kann also auch anders. Der Rückzug in die Innerlichkeit als Gegenentwurf, vielleicht mehr eine performative Pause von all dem Konsum, sich bei einem besinnlichen Self-Care-Abend ein wenig Schlamm in die Visage zu spachteln, um den oberflächlich wirkenden Schmutz aus den Poren zu ziehen, für ein paar Stunden von der endlosen Kommunikation mithilfe des Flugmodus’ loszusagen, vielleicht mal wieder einen Tee zu trinken. Doch auch die hydrierendste Gesichtsmaske kann zur Ursachenbekämpfung nur gerade einmal genau so viel beisteuern, wie ein Lackstift zur Reparatur eines Totalschadens; davon abgesehen, ist der Wagen schon vor Ewigkeiten gegen die Wand gekracht, das Problem schon viel zu tief im Wesen des Menschen veranlagt. Der Stoff, aus dem unser Ichbewusstsein gewebt wurde, ist durch Bilder kultiviert, die von der Kulturindustrie hergestellt und verbreitet werden. Was wir sehen und hören, bohrt sich tief in den Kern unseres Seins und bildet das Fundament unserer materiellen Welt. In einer Gesellschaft, in der moderne Produktionsbedingungen immer noch vorherrschend sind, ist die klassische Ware i.S.d. beweglichen Sache oder Gegenstand des Handelsverkehrs als ultimative Basis für die Identitätsbildung längst abgelöst. Seit der Emanzipation des Arbeiters zum Konsumenten ist die Fetischisierung von Gütern für fast jeden in greifbarer Nähe. So sind die Selbstliebe und das Kümmern um sich auch nur eine von Marketing-Analysten geschriebene individualistische Narrative, die doch wieder im Konsum endet und vom wahren Problempunkt ablenkt.

Vor allem die sog. Sozialität der Medien führt die Menschen in Versuchung, ihre wilden Erlebnisse, ihre stillen und besinnlichen Momente, ihre Überzeugungen, ihr alltägliches Chaos, ihre Talente und Freundschaften mit der Welt zu teilen. Auf einmal ist man mit alleinigem Öffnen von Apps in den Wohnzimmern und dreckigsten Ecken der Seele von Fremden, hat Einblicke in tausender Leute Leben. So reist man in kürzester Zeit durch die Welt, ohne sich tatsächlich mit Logistik auseinandersetzen zu müssen. Das bedeutet, dass derjenige, der die Erfahrung am eigenen Leib macht, der Besitzer eines immateriellen Kapitals ist, das durch Verarbeitung, z.B. in Form von Postings, die Basis für eine schier endlose Wertschöpfung ist. Dafür ist es natürlich von Notwendigkeit, dass die Erfahrungen außergewöhnlich sind, nicht für jedermann zugänglich und einfach interessant sind. Konsumierende Menschen werden zu Jägern von Erlebnissen und dem “Immerneuem” gemacht.

Die Art des Erkenntnisgewinns, das heißt unmittelbar oder mittelbar, unterscheidet die Menschen grundlegend und macht den Wert einer Person aus. Wer die Erfahrung innehat, ist Entscheider über Frequenz und Tiefe der sog. “Teilung” dieser, die sowohl durch Mund-zu-Mund-Propaganda, als auch durch die gängigen Medien passieren kann. Der Erfahrene ist Besitzer eines immateriellen Kapitals, dessen Wert sich durch das Teilen vervielfacht, wodurch sich dann abhängig von der Teilung anderer und Gleichem ein neuer Standard entwickeln kann. Doch während die Abenteurer scheinbar “out of the box” denken und sich gegen das standardisierte Leben auflehnen, sich im Endeffekt dann doch vom sog. Standard einlullen lassen, da sich sich einer gewissen kapitalistischen Marktlogik unterwerfen müssen, um die Wertschöpfung voranzutreiben. Die geteilte Erfahrung hat nur dann einen Wert, wenn sie weiterverbreitet wird, Nachmacher findet und sich somit zu einem kollektiven Gut entwickelt.

Am besten ist dies am Spektakel des Harlem-Shakes zu erkennen. Ähnlich wie bei der Hexenverbrennung, den sog. dadaistischen Happenings (oder surreale Aktionen) und dem obligatorischen Self-Care-Abend geht es hier um ein Ereignis, das einer gewissen Trend-Logik folgt, aber dem Ahnungslosen seine Sinnhaftigkeit nicht direkt vermitteln kann. Während das Happening innerhalb des realen Lebens stattfindet und gar keine ästhetische Grenze zur Realität hat, nimmt es zugleich in der Realität den Charakter des Absurden oder Willkürlichen an und folgt einer inneren Logik, quasi in sich durchkonstruiert ist. So werden Ereignisse dieser Art z.B. von Adorno charakterisiert. Der klassische Flashmob ist im Endeffekt nichts anderes als der Versuch, der Hypertrophie der Ereignislosigkeit entgegenzuwirken. Dem standardisierten und tristen Leben soll ein Moment der Spontaneität und der Unmittelbarkeit eingehaucht werden und durch ihn haben Menschen plötzlich eine gemeinsame Unternehmung, so absurd sie auch sein mag. Wird der Harlem-Shake kopiert und in neuem Gewand, d.h. in unterschiedlichen Kontexten, eingefügt, beginnt eine Kettenreaktion, welche schließlich dann zu einem Symbol des aktuellen Zeitgeistes wird und dann auch Rückschlüsse auf den Erfahrenen selbst und seine Einbettung im Kollektiv zulässt. Was für einem höheren Ziel sie dienen mag, ist oft erstmal irrelevant. Wenn es auch nur für einen kurzen Augenblick so sein mag, setzen Menschen der Absurdität der Realität etwas ebenso Absurdes entgegen. 

Scheitern tut dieses Vorhaben zumindest nach einer genaueren Analyse, denn was im modernen Happening passiert, ähnelt mehr einem Pseudo-Passieren. Was so spontan oder innerlich wirkt, ist von langer Hand geplant, bedarf der Bewältigung einiger logistischer Herausforderungen und wird nach der Durchführung doch wieder der kapitalistischen Logik unterworfen und leicht konsumierbar gemacht. Vielleicht mag dies nicht immer gleich auf die Durchführung des “spontanen Plans” passieren, doch über kurz oder lang werden der Rebellion gegen die Tristesse und dem Immergleichen der revolutionäre Charakter durch Kommerzialisierung abgesprochen. In dem Hype zum wenige Minuten andauernden Kontrollverlust während des Harlem-Shakes wittern geschickte Hirne nicht nur Spaß, sondern verleiben sich das “Revolutionäre” durch Monetarisierung ein und nehmen dem Witz die Unschuld. 

Das führt wohl einerseits zu einer Diversifizierung von Erkenntniszugängen, da sich natürlich jeder auf eine bestimmte Heuristik spezialisiert, doch bleibt es fraglich, wie authentisch Erfahrungen ab einem gewissen Moment überhaupt noch sein können. Eine Gesellschaft, die durch den Schein aufrechterhalten wird, verschleiert die tatsächliche Armseligkeit und Fragmentation der Lebewesen und deren Lebensweisen. Es geht nicht mehr um das Intrinsische, um den Kern einer Person, sondern um die Wirkung auf Externe und deren Validierung bis zum ärztlich verschriebenen Dopamin-Detox. 

Der Mensch des einundzwanzigsten Jahrhunderts lebt durch einen entfremdeten Welt- und Selbstbezug das Leben von unzähligen Menschen, welche sich gegenseitig wie Waren erleben. So vermag sich ein Niemand zu einem Jemand zu avancieren, indem er innerhalb des korrupten Systems einen Weg findet, um der restlichen Welt seine eigenen Erlebnisse so lange aufzudrängen, bis dieses Erleben, dieses gewisse Ereignis zum neuen Desideratum wird. Wer zeigt, dass er sozial und ökonomisch dazu in der Lage ist, Außergewöhnliches zu erleben, für etwas einsteht und sich das Anecken leisten kann, der ist für andere etwas wert. Damit schafft die glücklich anmutende Minderheit ein neues Narrativ, das sehr glaubwürdig die prinzipielle Möglichkeit zum tugendhaften und zufriedenen Leben innerhalb dieses repressiven Systems zeigt, ganz einfach durch die effiziente Nutzung von gesellschaftlichen Gegebenheiten. Dies kreiert ein dominantes Leitbild von dem, wie wohl der beste Lebensentwurf aussieht: nämlich das System für korrekt anzuerkennen und es durch Klugheit zu antizipieren. Sicherlich könnte sich ein Niemand im gesellschaftlichen Konstrukt besserstellen, indem er die Morgenroutine eines Millionärs nachäfft und bis zehn Uhr vormittags noch nicht einmal annähernd mit Geldverdienen begonnen hat, doch nun ja, das muss man sich eben auch erst einmal leisten können. Praktisch, denn so wird das System von sämtlicher Schuld an kollektivem Leid entlastet und es wird all denjenigen den Schwarzen Peter zugeschoben, die sich nicht aus ihrer Unterdrückung emanzipieren konnten. Sie könnten auch glücklich sein, wären sie jemand anderes.

So sehr die meisten unter uns gegen das Schubladendenken und die Simplifizierung des Menschen zum zweidimensionalen Charakter sträuben und hetzen, diese moderne, unterbewusste Wahrnehmung macht das Leben doch oft einfacher. In gewisser Weise, präsentiert die Möglichkeit des Labelverkörperns eine große Befreiung von so vielen kleinen energiezehrenden Entscheidungen des Lebens. Es kann doch alles schön sein, wenn die Komplexität des Navigierens dieser Erde durch den Anspruch an Verkörperung eines Nischenideals abgegeben wird. Gleichsam der Fesselkunst, korsettiert sich der moderne Mensch gerne in die volontären Restriktionen, die mit dieser Lebensart kommen. Von einem Fesselmeister in ansprechende Formen gebunden und präsentiert, wurde die wichtigste Entscheidung doch autonom und wissentlich von dem Gefesselten selbst getroffen: Die Partizipation in diesem eleganten, leicht schamlosen Kunstwerk. Nun vollständig eine

Dekoration, der Gefesselte hängt seelig in den roten Seilen, befreit von den Komplikationen des aktiven Lebens und wonne-gefüllt mit der Vorstellung der Extase, mit der solch schönes Handwerk die Zuschauer wohl füllen muss.

Glück in der heutigen Gesellschaft scheint möglich: Gutes Essen, tiefe Freundschaften, besondere Momente. Doch die Szenen der Idylle, die uns täglich präsentiert werden, können mit der Zeit, die dem Normalbürger von Arbeit und Konsum gestohlen wird, nur schwer reproduziert werden. Doch statt diese Unmöglichkeit für systemisch zu erkennen, fühlt das Individuum oft nur eine tiefe Eigenschuld. Wenn die schönen, erfolgreichen Menschen in Video und Fernsehen es schaffen, glücklich zu sein, warum scheitert man dann selbst? Da scheint es leichter, einfach aufzugeben und sich zu etwas formen zu lassen, was erwiesenermaßen im System heimisch werden kann. 

Von Antonia Trieb und Alexandra Wolff

Antonia Trieb
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