Passend zum Jahreswechsel wird mal wieder ein Böllerverbot gefordert. Eine Pflicht zur Vernunft wäre aber mindestens genauso kurzsichtig wie das Böllern selbst.
von Marius Hörst
Für die Säufer auf der Wies’n haben viele nur noch Verachtung über, wer keinen Fahrradhelm trägt, wird bald Gegenstand der “natürlichen Selektion” sein und wer böllert, dem ist sowieso nicht mehr zu helfen. So oder so ähnlich lautet der Post-Corona-Tenor bei vielen Handlungen, die eigentlich so gesehen unvernünftig erscheinen: Der Säufer macht sich die Leber kaputt, der Radfahrer den Kopf und der Sprengmeister die Finger und ganz nebenbei noch die Umwelt.
Während Elano Bodd in ihrem Buch die gar nicht mal mehr so rhetorisch anmutende Frage „Wollen wir überhaupt noch frei sein?“ stellt, flimmert Robert Habeck mit Duschtipps über den Bildschirm und sendet per Gesetz 19 Grad kalte Grüße. Man findet sich selbst im Bad mit Winfried Kretschmann in Gedanken und dem Waschlappen in der Hand wieder, im Hintergrund läuft Huey Lewis & The News aus den 80ern: „It’s hip to be square.” Das Lied, das bezeichnend für den Film „American Psycho“ mit dem ikonischen Protagonisten Patrick Bateman von den „pleasures of conformity“ handelt, avancierte in den vergangenen zwei Jahren immer mehr zur Ode an die deutsche Freude. Wer aber genauer hinschaut, erkennt darin die Bateman’sche, und damit vielleicht auch unsere ganz persönliche, Identitätskrise: Auf der Suche nach Anerkennung, mit der wir unsere den gesellschaftlichen Ansprüchen oder denen unseres Umfelds gerecht werdenden Handlungen begründen, lassen wir jedes Mal ein Stück unserer Selbst zurück. Dieser innere Konflikt nimmt vor allem dann Fahrt auf, wenn andere ohne diese Anerkennung leben können, vielleicht sogar wollen. Der Nachbar, der vor Silvester mit vollem Kofferraum aus Polen zurückkehrt, entlockt uns ein schmerzhaftes Lächeln. Was fällt dem eigentlich ein, daran Freude zu finden? Im Gegensatz zu Bateman können wir das aber nicht mit der Axt lösen, sondern müssen einen anderen Weg finden, um der Unvernunft ein Ende zu bereiten.

Hier gehen wir seit der Corona-Pandemie neue (alte) Wege: Obwohl beispielsweise die von vielen geforderte Impfpflicht mittlerweile in der Mottenkiste verweilt, so ist ihr Mythos noch nicht aus unseren Köpfen, hat sie doch offenbart, wie die Politik und viele Menschen mittlerweile Problemlösung verstehen. Statt mit dem Appell an die Vernunft, dem am Ende sowieso niemand Gehör schenkt, weitreichende Diskussionen auszulösen, liegt es natürlich nahe, die „richtigen“ Dinge plump per Brecheisen zu verordnen. Mit der Analogie zur Kindeserziehung trifft die Beschreibung des „harten Paternalismus“ voll ins Schwarze: Die vernünftigen „Eltern“ haben genug von der Quengelei ihrer „Kinder“ und ihrem weinerlichen Ruf nach Böllern, Saufen und sonstigen Quatschideen, weswegen sie, immerhin sind sie ja die Erwachsenen und damit die Vernünftigen, dem Kindergarten durch erzieherische Maßnahmen ein Ende setzen. Die meisten „Eltern“ sehen sich dabei durch neue Erkenntnisse der Verhaltensökonomik gestärkt. Der Mensch überschätzt sich und seine Prognosen, Verluste bewertet er stärker negativ als Gewinne wiederum positiv, er verschiebt alles auf morgen (denkt an Eure Seminararbeiten!) und hat oftmals keine Lust auf Verbesserungen, weil der Status-Quo so schön bequem ist. Es entsteht der Eindruck, wir wären so ziemlich alles, nur nicht vernünftig.
Diese Erkenntnisse werden indes nicht nur als Bestätigung eines schlechten Menschenbildes, sondern auch als Auftrag, diese angeblichen Makel zu beheben, verstanden. Deswegen wird überall dort, wo man sich scheinbar nicht mehr auf die Vernunft des Einzelnen verlassen kann, nach Pflichten beziehungsweise Verboten geschrien. Die Argumentationslinie folgt dann oft einem bestimmten Schema: „X richtet zu viel Schaden an, also brauchen wir ein X-Verbot“ oder „Wenn Leute Y machen, hätte das überwiegend Positives zur Folge, deswegen brauchen wir eine Y-Pflicht“. Das mag gut gemeint sein und man könnte meinen, es kann ja nicht schaden, wenn etwas „Übergeordnetes“, dessen Motivation zum Großteil in Fürsorge besteht, über einen wacht und neben guten Worten bei unvernünftigen Handlungen eben auch „Blitz und Donner“ für einen bereit hält.
Mittlerweile beginnt die Freiheit des Einzelnen wohl eher dort, wo die Freiheit des anderen endet.
Dennoch empfinden manche eine Pflicht beziehungsweise ein Verbot als Einschränkung ihrer Freiheit. Was sie angeht, so hat sich Kant mit seinem Zitat „Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt“ in unser Hirn gebrannt. Mittlerweile beginnt die Freiheit des Einzelnen wohl eher dort, wo die Freiheit des anderen endet. Die moderne Interpretation des Kant’schen Zitats mündet in einer Zuspitzung der Selbstbeschränkung, die viele so verstehen, als dass jede empfindliche Betroffenheit Beachtung finden möge, man also der „Freiheit des anderen“ unbedingten Vorrang gewähren muss. Damit kann man sich relativ einfach der kräftezehrenden Freiheits-Abwägung entledigen, die bei Kants Zitat implizit zur Notwendigkeit erklärt wird. Der Pflichten- und Verbotshagel, den wir infolge der Corona-Pandemie erlebten, ließ „Freiheit“ dabei langsam, aber sicher zum Unwort sowie Symbol für Egoismus
verkommen und machte eine Unterscheidung von Recht und Moral immer schwieriger, die eine der der Pfeiler unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsordnung ist. Zwar sollte der Staat einen sozialethischen Mindeststandard garantieren, was eine vollkommene Trennung von Moral und Recht unmöglich macht, die Wahrung seiner rechtlichen und moralischen Neutralität sollteihm dennoch ein wichtiges Anliegen bleiben.
Wenn dazu das Bundesverfassungsgericht, im Sinne einer rechtlichen Selbstbegrenzung, der Politik in manchen Entscheidungen (Beispiel Wehrpflicht) ihren eigenen Entscheidungsspielraum lässt, impliziert das in gewisser Weise, dass es ebenfalls sowas wie eine moralische Selbstbegrenzung geben müsste. Denn sobald wir rechtliche Entscheidungen bloß in einer quasi religiösen – unbedingter Klima- und Gesundheitsschutz können dabei auch so etwas wie eine Religion sein – Perspektive begründen, widerspricht das dem konfliktlösenden Anspruch des Rechts. Letztlich wäre der Staat gut damit beraten, moralisch geleitete Partikularinteressen zu begrenzen. Das ist gerade für Minderheiten wichtig, die auf die Unterstützung des Rechtsstaat gegenüber der lauten „moralischen Mehrheit“ angewiesen sind.
Die Leute hier so lange eingelullt, bis sie denken, die Bevormundung wäre in Wahrheit die Befreiung ihrer Selbst von irrationalen Tendenzen.
Da hilft es auch nicht, wenn, wie im Falle des Maskentragens, aus Pflichten oder Verboten „Empfehlungen mit Nachdruck“ werden. Der „libertäre Paternalismus“, jener der vor allem mit Empfehlungen arbeitet, erscheint,
anders als sein hartes Pendant, mit einem anti-kollektivistischen Anstrich und arbeitet mit Schubsern, sogenannten Nudges, die den Anschein erwecken, man hätte sich der lästigen Bevormundung losgesagt. Das macht ihn sehr gefährlich. Das Adjektiv „libertär“ bleibt bei genauerer Betrachtung nämlich völlig deplatziert, wird mit libertär-paternalistischen Maßnahmen mitunter ein mittelbarer Konformitätsdruck erzeugt. Der libertäre Paternalismus ist also eher ein Oxymoron als die Lösung für gesellschaftliche Dilemmata.
Wie viel Freiheit am Ende in ihm steckt, lässt sich ziemlich einfach an der Widerspruchs- vs. Zustimmungslösungsdebatte beim Thema Organspende ergründen. Zwar kann man in beiden Fällen selbst bestimmen, was nach dem Tod mit den eigenen Organen passiert. Doch ist es wirklich Freiheit, wenn zwar Wahlfreiheit besteht, das Recht auf körperliche Unversehrtheit aber nur gewährt wird, wenn man Widerspruch einlegt? Dabei ist es letztlich völlig unerheblich, wie niederschwellig das Angebot hierfür auch sein mag. Die in der Verhaltensökonomik festgestellten
kognitiven Verzerrungen werden schamlos ausgenutzt, statt den Leuten durch bessere institutionelle Arrangements oder Informationen zu einer Entscheidung zu verhelfen. Menschen, die sich nicht den Aufwand machen, Informationen über Organspende einzuholen, und unter Umständen dann dagegen gewesen wären, werden zu Spendern erklärt. „Pech gehabt!“, wäre man da geneigt zu sagen. Das mag angebracht sein, wenn jemand den Anschlusszug verpasst, aber nicht, wenn man ein Grundrecht nur noch per Veto einfordern kann.
Das sollte doch ein Anlass zur Sorge sein, oder? Im libertären Paternalismus wohl nicht, denn im Endeffekt
werden Leute hier so lange eingelullt, bis sie denken, die Bevormundung wäre in Wahrheit die Befreiung
ihrer Selbst von irrationalen Tendenzen. Wenn sogar der Baumarkt die Suche nach Feuerwerkskörpern
mit einem erhobenen Zeigefinger und einem abfälligen „Nanana, schon an die Umwelt und
die ganzen Tiere gedacht?“ quittiert, könnte man denken, dass man wirklich langsam mal zur Vernunft
kommen sollte. Im selben Atemzug, noch bevor mir toom den Respekt fürs Selbermachen ausspricht, der
sich natürlich nicht aufs Böllern bezieht, wird ein euphorisches „Achja, die Werkzeugtasche aus echtem
Kuhleder ist im Übrigen im Angebot und der Benzin-Rasentraktor geht richtig ab!“ hinzugefügt. Offenbart
das nicht in gewisser Weise den Widerspruch, dem wir uns hier aussetzen?
Wir dürfen selbstverständlich weiterhin ganz nach Belieben saufen und Auto fahren – versprochen.
Wer meint, die Baumärkte dieser Welt sind wohl nicht die Garanten des intellektuellen Diskurses, der
irrt, erzählen uns doch sogar manche Wissenschaftler, dass die Wohlfahrtseffekte libertär-paternalistischer
Maßnahmen in den meisten Fällen positiv wären. Sie verwenden dabei wirre Modellierungen des
Nutzens der Freiheit. Hierbei sollte man sich erst einmal selbst die Frage stellen, ob man überhaupt sagen
könnte, welchen „Wert“ man der eigenen Freiheit beimisst und wann man bereit wäre, diese aufzugeben.
Dass man bei diesen institutionellen Arrangements nicht nur aus den eben erwähnten Abwägungsgründen
eine langwierige Diskussion bräuchte, ist den meisten nicht so wichtig, immerhin gibt es ja ein Dilemma
aufzulösen oder ein Gut zu schützen. Wenn man sich diese Zeit aber nehmen würde, könnte man
für viele „Probleme“ eine bessere Lösung finden oder es würde sich herausstellen, dass eine Intervention
völlig überflüssig ist. So könnte man die Organspende beispielsweise als Versicherungsfall etablieren,
bei dem die Spende auf Gegenseitigkeit beruht. Hier wäre die Entscheidung wirklich eine freie und das
Knappheitsproblem würde wahrscheinlich ebenfalls nicht mehr bestehen. Darüber gesprochen wurde in
der Vergangenheit eher weniger, die polarisierenden, sich gegenüberstehenden Ansätze konkurrieren um
die Gunst der Politik. Meist muss es in ihrem Sinne dann doch fix gehen, weswegen nur die Lösungen
zur Debatte stehen, die am naheliegendsten erscheinen. Das ist so bei fast allen Problemen unserer Zeit.
Dabei kommen nicht selten wichtige Argumente unter die Räder. Wie beim anfänglichen Böller-Beispiel etwa, dass Verletzungen im Zusammenhang mit Böllern und die Feinstaubbelastung durch sie laut F.A.S. eigentlich keine großen Probleme darstellen. Bei dem ganzen Feuerwerk überhört man leicht die Kliniken, die berichten, dass der Alkohol an Silvester das viel größere Übel ist, und die Experten, die auf den Feinstaub, der im Verkehrssektor entsteht, verweisen. An Prohibition und autofreien Sonntagen haben sich schon einige die Finger verbrannt, also mal sehen, ob der libertäre Paternalismus uns diese „Entscheidung“ nicht doch bald abnehmen wird. Wir dürfen selbstverständlich weiterhin ganz nach Belieben saufen und Auto fahren – versprochen.
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