Warum die „Europäische Lösung“ im besten Falle eine vergebene Hoffnung und im schlimmsten ein Vorwand ist.
Von Hanno Rehlinger
Das Argument ist nicht neu. „Wenn Deutschland jetzt die Flüchtlinge nimmt, wird es nie eine Europäische Lösung geben“. So hat es schon geheißen, als Merkel die Grenzen „öffnete“, und seitdem wieder und wieder, jedes Mal, wenn das Leid mal wieder in der Öffentlichkeit hochkochte und nach Lösungen gerufen wurde.
Das Problem mit diesem Argument ist, dass es seine eigene Prämisse zusehends zerstört. Die Idee ist ja, Druck auszuüben auf die anderen europäischen Staaten. Dieser Druck besteht aus den Menschen in den Lagern, sicher, aber woraus denn genau? Man hofft, dass die anderen europäischen Staaten sich verantwortlich fühlen, für ihr Leid. Man hofft, dass sie sich moralisch und emotional in der Pflicht sehen, allen Menschen ein würdevolles Leben zu ermöglichen. Man hofft, dass sie es nicht mit ansehen können. Das ist die Prämisse.
Was Deutschland aber tut, wenn es diesem Argument folgt, ist, die Menschenleben als Verhandlungspfand zu benutzen. Gerade diese Praxis aber ist mit der Prämisse des Arguments überhaupt nicht zu vereinbaren. Sie entwertet nämlich die Moral, die die anderen Staaten zum Einlenken bringen soll: Sie entmenschlicht die Insassen der Lager. Es heißt ja auch immer wieder, man muss da strategisch rangehen – nicht so emotional. Wir wollen also strategisch rangehen und hoffen dabei, dass unsere Nachbarn dessen nicht fähig sind.
Durch die zunehmend strategischen Verhandlungen über „das Humanitäre Problem“ werden Menschen in die Sprache der Politik eingewoben und von allen moralischen Werten und Gefühlen befreit. Genau diese moralischen Werte und Gefühle sind es aber, die angeblich die anderen Staaten zum Einlenken bringen sollen. Dieses Argument macht also immer weniger Sinn, je häufiger es wiederholt wird. Oder glaubt jemand ernsthaft, dass die Empathie, die die anderen europäischen Staaten zum Handeln zwingen soll, jetzt noch ungekannte Ausmaße annehmen wird? Jetzt, nachdem das Thema doch bitte nur noch vorbei sein soll.
Zuletzt haben wir dieses Argument gehört, als Moria brannte. Daraufhin nahm Deutschland zwar Geflüchtete auf, nicht aber jene, die auf Lesbos über die Straßen irrten. Stattdessen Menschen, deren Recht auf Asyl bereits anerkannt worden war, und dann auch aus allen Regionen Griechenlands, um bloß nicht den Eindruck zu erwecken: Wenn euer Lager brennt, dürft ihr nach Deutschland.
Warum dann überhaupt gerade jetzt, stellt sich die Frage. Der Grund ist das alte Argument: Wenn es eine europäische Lösung geben soll, muss der Druck auf die anderen Staaten groß bleiben. Dazu muss aber auch der Druck aus der eigenen Bevölkerung kleingehalten werden, sonst denken die anderen europäischen Staaten ja: Ach, die Deutschen müssen das eh früher oder später machen – da setzen sich die Kommunen durch.
Je länger man die Geflüchteten in den Lagern überall in Europa und der Türkei als Schachfiguren im politischen Kräfteringen behandelt, desto weniger werden sich die Menschen für sie verantwortlich fühlen. Ich schlage ein anderes Argument vor: Wenn wir die Leute aufnehmen, können wir uns umdrehen und den anderen Staaten Tränen der Scham in die Augen treiben – jene Tränen, die jetzt ausbleiben, obwohl sie uns alle täglich schütteln sollten.
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